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Bibliothek Sittermühle, Bischofszell

Bibliothek Sittermühle Bischofszell
Bleicherweg  2d
CH-9220  Bischofszell
T: +41 (0)71  420  96  86
www.sittermuehle.ch


Zum Text von Heinz Egger

Privatbibliothek öffentlich

Michael Guggenheimer

Das gibt es: Gast sein in einer privaten Bibliothek. Und sich so lange in dieser Bibliothek aufhalten dürfen wie man will. Die Erlaubnis haben, jedes Buch aus den dicht gefüllten Tablaren herauszuholen, sich in einen der bequemen Sessel – sogar ein Ohrensessel ist vorhanden – hinzusetzen und lesen solange man Lust dazu hat. Die Stille einer gut dotierten Bibliothek geniessen, in der Jean Pauls Werke ebenso stehen wie Bücher von Boris Pasternak, Alice Munro, Julian Barnes, Michail Schischkin, Wole Soyinka oder Adolf Muschg, Klaus Merz oder Susanna Schwager, wo Kunstbücher von Topkapi über van Eyck bis zur japanischen Vasentechnik zum Stöbern einladen. Welche ein Traum! Zwischendurch ein Kaffee oder Tee gefällig?

Ja, es gibt eine solche private Bibliothek! Sie liegt in Bischofszell in der Ostschweiz hoch oberhalb des Flusses Sitter in einem umgebauten Gebäudekomplex. Der Bibliotheksraum im zweiten Stock ist lichtdurchflutet, ein heller Parkettboden, eine schallschluckende Decke, Fenster mit Aussicht. Und Bücher, viele Bücher!  Der Raum ist unterteilt: Rechts beim Betreten eine lange Regalwand Belletristik. Die Büchergestelle sind diskret angeschrieben: Die Schweiz zuerst, dann Deutschland, Italien, Nordeuropa, England, USA, Russland, China, und Indien. Bücher in deutsch, französisch, italienisch und englisch. In einem weiteren Gestell Märchen aus unterschiedlichen Kulturkreisen in verschiedenen Sprachen. Eine richtige Bildungsbibliothek wie früher mit Brücken zur heutigen Literatur, wie man sie so reichhaltig in privaten Haushalten nicht schnell wieder findet. Hier hat eine sehr belesene Person ihre Bibliothek anderen Lesenden geöffnet. Bildungsbürgertum lacht einem entgegen.

Dann auf der anderen Seite des Bibliothekraums die grossen Kunstbücher von Bosch über Goya bis nach Japan. James George Frazers Goldener Bogen in der Originalsprache, die Philosophen Bertrand Russel und Karl Jaspers sind nicht vergessen und werden sekundiert von Douglas R. Hofsatter, Fritjof Capra und Horst E. Richter. Mythologie, Menschlichkeit, Medizin, Volkskunde, Natur, Geisteswissenschaften, Oekologie, Geschichte und Kaligraphie sind die Tablare angeschrieben. Und was erstaunt: Comics, Fatasy, Satire, Cabaret, Graphic Novels und Cartoon sind ebenso vorhanden. Zu Besuch in dieser Bibliothek mit Kindern? Kein Problem auch Kinderbücher gibt es hier. Von einer Bücherwand inmitten des Raums getrennt, weist die Bibliothek zwei Bereiche auf. In einem Bereich die bequemen Polsterstühle um einen runden Tisch, im anderen Bereich ein Arbeitstisch mit drei Stühlen, gleich daneben ein Schachtisch. Man kommt sich vor wie in einem englischen Club. Nur dass hier Frauen, Männer und Kinder willkommen sind.

Sittermühle. Das ist die private Bibliothek einer pensionierten Kinderärztin, mehrere tausend Bücher in einem Raum versammelt, der jedem Lesenden offensteht. Ein Katalog? Nein, den gibt es hier nicht. Oder doch! Wie in anderen Privatbibliotheken würde die Erstellung eines digitalen Katalogs dieser in Jahren gewachsenen privaten Bibliothek Monate dauern. Der Katalog ist wie in vergleichbaren Bibliotheken im Kopf der Besitzerin. Sie weiss, was es hier gibt. Sie weiss, wo sich die Autoren, die Themen und die Titel befinden. Ja, man darf sogar Bücher mit nach Hause nehmen, wenn man sich verpflichtet, sie auch wieder zurückzubringen. Die Besucher? Leute vom Ort und solche die von weiterher kommen. Sie werden einzeln willkommen geheissen.

Früher befanden sich hier die Lagerräume einer Mühle. Man schaut zu den Fenstern der Bibliothek hinaus und sieht ein Wehr, auf der anderen Flussseite sind in der Ferne Fabrikationsgebäude zu sehen, hier befindet sich eine grosse Konservenfabrik. Etwas weiter oben die kleine Altstadt: Einige wenige Gassen, ein reizender Ort, die Gassen fast so märchenhaft wie das Innere der Sittermühle. Christine  Homberger hat das Gebäude für sich entdeckt, damals noch in einem arg baufälligen Zustand. Einheimische wollten nicht glauben, dass aus dem verfallenen Ort etwas Neues werden könnte. Aber es wurde! Urs Eberle, Architekt und Grafiker hat mit ihr das Gebäude neu definiert. Andere Menschen teilhaben lassen an ihrem Wissen, an ihren Erfahrungen, das ist ein Credo von Christine Homberger. Dazu gehören die  offene Bibliothek, ein Billardraum, ein digitales Fotolabor mit mehreren Computerarbeitsplätzen, ein grosser Raum mit Küche, in dem Kochkurse stattfinden. Im Erdgeschoss befindet sich eine Holzwerkstatt, über einen Festraum verfügt das Haus auch.

Die Sittermühle ist ein Treffpunt. Man darf die Räume benutzen, wenn die Besitzerin der Bibliothek im Hause ist. Und keine Angst: Sie lässt einem gewähren, hat Freude daran, wenn andere sich an den Angeboten freuen. Ein Spielclub ist hier regelmässig zu Gast ebenso eine Philosophierunde, ein Fotoclub, ein Tangoclub, eine Runde von Drechslern. Und demnächst wieder ich. Einfach so zum Stöbern in den Büchergestellen und zum Lesen! Und weil ich beim Abschreiten der Tablare Louis Pauwels und Jacques Bergiers Werk „Aufbruch ins Dritte Jahrtausend“ aus dem Jahr 1962 entdeckt habe, das ich als Gymnasiast gelesen und geliebt habe, das Buch aber nicht mehr besitze, muss ich noch ein zweites mal hierher kommen!

Grosszügig – zu allen!

Heinz Egger

Ein kleiner Vorplatz. Links davon ein hölzernes Haus, von der Sonne gebräunt und auf Fassade und Dach mit Solarzellen bedeckt. Geradeaus, parallel hinter dem hölzernen Haus ein vierstöckiger Bau mit vielen Fenstern, allerdings ohne Fensterläden. Das Erdgeschoss zeigt grau verputztes Mauerwerk, darüber leuchten gelblich die kleinen Schindeln mit rundem Abschluss, wie sie im Thurgau und im Appenzellischen oft zu sehen sind. Ein seidener Glanz liegt über der Fassade. Das langgezogene Haus wurde vor nicht allzu langer Zeit neu gestrichen. Das Dach verläuft wie ein Zickzackband, als seien viele schmale Häuser aneinander geschoben worden.

Die Türe ist offen, und als wir eintreten, ertönt von oben her ein freundliches Hallo und die Aufforderung, die Treppe hochzusteigen. Es ist eine metallene Wendeltreppe, die unter unseren Füssen rhythmisch nachhallt.

Christine Homberger, ehemalige Kinderärztin mit Praxis in St. Gallen, empfängt uns herzlich. Im Gespräch wird sehr schnell klar, was ihr wichtigstes Anliegen ist. Auf die Frage, wem das alles gehöre, sagt sie gern: „Im Moment gerade Ihnen.“ Was sie hat, möchte sie mit anderen teilen. So hat sich im Erdgeschoss ein Drechsler eingerichtet, der dort auch Kurse in diesem Handwerk anbietet. In einem weiteren Raum trainiert ein Vietnamese Carambole-Billard. Er wurde 2019 Schweizermeister mit dem Team aus St. Gallen.

Im ersten Stock, wo wir empfangen werden und unsere Taschen und Mäntel ablegen, liegt eine grosse Küche mit langem Esstisch auf der einen Seite der Küchenzeile und und auf der anderen ein gemütlicher Lese-, respektive Debattier- und Philosophierplatz mit bequemen Sitzgelegenheiten. Es verkehrt hier also eine Philosophengruppe und es finden Kochkurse statt. In einem Gestell steht eine Kochbuchbibliothek.

Im zweiten Stock füllen neben einem grossen Arbeitstisch mehrere Computerstationen, und zwei grosse Drucker einen grosszügigen Raum. Hier trifft sich ein Fotostammtisch. Ein Fotograf führt Teilnehmerinnen und Teilnehmer in die Geheimnisse der Fotografie und der digitalen Bildbearbeitung ein. In einem Gestell stehen dazu entsprechende Handbücher bereit. Diese kleine Fotografenbibliothek speist das Grüppchen selber, das manchmal aus nur zwei oder aber bis aus sechs Personen besteht.

Natürlich ist Christine Homberger überall dabei. Sie arbeitet selbst an Büchern, die sie aus Fotos und Text gestaltet. Dabei widmet sie sich anspruchsvollen Themen. Ihr erstes solches Buch, ganz in Gold glänzend, ist ein „Stundenbuch“, das letzte, das fertig geworden ist, heisst „Weisheit“.

Alle Türen im Haus gehen vom zentralen Treppenhaus aus, das auch den Lift enthält. Und sie sind alle beschriftet. Grosse, dunkelgraue Buchstaben prangen auf den weissen Türblättern.

Ebenfalls im zweiten Stock liegt die Privatbibliothek. Auch hier gilt das Motto des Teilens. Was nütze ein schöner Faksimile-Band hinter Glas, fragt Christine Homberger rhetorisch. Bücher gehören unter die Leute, sagt sie. Und eine Bibliothek ist ein Ort der Begegnung nach ihr. So kann jeder hierher kommen und so viel Zeit in der Bibliothek verbringen, wie er möchte.

Gleich links nach dem Eingang in den Bibliotheksraum steht ein schwarzes hölzernes „Ungetüm“. Es wurde Christine Homberger geschenkt, damit sie darauf einen alten, grossen, schweren Band mit Goldschnitt auflegen und umblättern könne. Es ist eigentlich eine recht filigrane Konstruktion, aber ihr Schwarz greift Raum, weil alles ringsum sonst schneeweiss leuchtet.

Die Bibliothek ist wie eine Galerie eingebaut. In geschwungenem Bogen läuft ein Gitter vom Eingang zur gegenüberliegenden Wand mit den Fenstern. Über das Gitter hinunter sieht man in einen grossen Saal mit Bühne, deren Vorderkante der Form der Galerie folgt.

Es ist hell im Raum, nicht nur wegen dem Weiss, das dominiert, sondern auch wegen den grossen Fenstern. Durch diese hört man das Rauschen des Überlaufs der gestauten Sitter. Das Wasser liefert Energie für die Mühle am gegenüberliegenden Ufer. Auch sie habe eine Turbine im Keller, sagt Christine Homberger. Überhaupt ist ihr Haus „energieautark“. Erdsonden liefern Wärme und die Solaranlage auf dem Nachbarhaus Elektrizität, die in Batterien gespeichert wird.

Etwa 5000 Bücher gebe es in der Bibliothek, sagt Christine Homberger. Und der Bestand wachse immer noch. Allerdings dürfe nicht alles bleiben, was hinzukomme. Sie ist wählerisch. In ihrer Bibliothek finde man eher, was man nicht suche, respektive, was öffentliche Bibliotheken nicht führen. Auch ältere Bücher gehören dazu. Dass da immer noch Neues hinzukommt, sieht man sofort, denn auf allen Tischen liegen neue Bücher, die auf einen Erstleser warten: Die Bändchen sind noch zwischen die Seiten eingeschlagen. Bücher kauft Christine Homberger in der kleinen Buchhandlung in Bischofszell. Ideen für Neuanschaffungen bezieht sie aus Rezensionen in Tageszeitungen, Radio und Fernsehen. Aber sie liebt es auch, in der Buchhandlung zu stöbern und sich verführen zu lassen.

Die lange Wand rechts des Eingangs enthält die Belletristik. Die Bücher sind nach Ländern geordnet. Am Anfang steht die Schweizer Literatur und am Ende sind Bücher aus Asien eingereiht. Nicht nur Deutsch ist zu sehen. Englisch, Französisch und Italienisch sind auch vertreten.

Mit dem Computer hergestellte Papierstreifen weisen den Weg durch den Bestand. Es gibt natürlich einen Kinderbuchteil, dann fallen Themen wie Ökologie und Menschlichkeit auf. Und Christine Homberger scheint Humor zu haben. Als Aufschrift auf Tablaren findet sich mehrmals das Wort Satire, dann Cabaret und Comics. Sie ist Anhängerin der Eva-Geschichten, die über Jahre im Tagesanzeiger erschienen sind, liebt Graphic Novels ebenso wie die Zeichnungen von Loriot.

Ob all die Werke in einem Katalog verfügbar sind? Sie habe einst angefangen, einen elektronischen Katalog aufzubauen, das sei aber inzwischen wegen Softwareproblemen eingeschlafen. Sie weiss aber genau, was sie wo hat.

Der Bibliotheksraum wird durch einen kubusartigen Einbau, der als Büchergestell dient, in zwei grosse und zwei schmale Bereiche geteilt. Vorne zum Galeriegitter hin ist es weit und offen. Ein grosser Tisch und Stühle laden zum Studium ein. Von hier aus hat man auch den Blick auf die einzige noch vorhandene Innenmauer des alten Hauses: Holzwerk, ausgefüllt mit Ziegelsteinen, teilweise verputzt.

Hinter dem Raumteiler vor einem grossen Gemälde stehen zwei Leselampen, Fauteuils, und ein Tisch – ein Ort wie eine Wohnstube, in den man sich zurückziehen und in die Bücherwelt verkriechen kann. Hier sei sie häufig, sagt Christine Homberger.