Unter der Kuppel
Michael Guggenheimer
„Zwanzig Minuten brauchen’s schon vom Zentrum aus, wenn Sie wirklich zu Fuss kommen wollen“, sagt die Dame am Telefon. „Nehmen’s doch den Bus, da brauchen’s nur noch wenige Minuten bis zu uns“. Und wirklich, zentral liegt die Vorarlberger Landesbibliothek nicht. Der erste Eindruck beim Weg von der Haltestelle Franz Ritter aus ist etwas ernüchternd, nicht anders auch die ersten Momente beim Betreten des Gebäudes. Noch weist nichts darauf hin, welch’ einen grossartigen Bücherort man betreten hat. Man deponiert seine Tasche in einem Schliessfach hinter der Empfangstheke, freut sich über die Publikationen („Literatur im Vorarlberg im 19. Jahrhundert“, „Die Mundarten Vorarlbergs“, „Die Anfänge der Buchkunst im Vorarlberg“), Bleistifte und Capuccinotassen mit Buchstabenmotiv, die in einer Glasvitrine zum Verkauf angeboten werden und betritt einen etwas nüchtern wirkenden Katalogsaal, neben dem sich noch ein Lesesaal befindet. Doch dann fällt der Blick auf eine grosse Aufschrift an der Wand. „ICH BIN NEU HIER“, heisst es in Grossbuchstaben. Ein breites Büchergestell mit den Neuanschaffungen der Bibliothek. Und die sind so spannend, dass man sich einzelne präsentierte Bücher nimmt und sich im Katalograum hinsetzt und die anfängliche Verwunderung über die Lage der Bibliothek am Rande der Stadt vergisst. „Spitzenzeit. Vorarlberger Erinnerungen zum Stickereiexport nach Nigeria“ heisst das Buch, das den Auswärtigen mit Aspekten der faszinierenden Geschichte der Textilindustrie im Vorarlberg bekanntmacht. Eine halbe Stunde vergeht, man hat sich ein zweites Buch geholt, „Absolut analog“ heisst es und handelt von der Wiederentdeckung der analogen Fotografie im digitalen Zeitalter. Beim Zurücklegen des Fotobuchs fällt der Blick auf knapp fünfzig durchsichtige Kunststoffkoffer, auf denen „Römisches Recht“, Verfassungsrecht“, „Verwaltungsrecht“ oder „Europarecht“ steht. Eindeutig Studienliteratur.
Höchste Zeit für eine weitere Erkundung der Bibliothek. Vorbei an der verschlossenen Tür mit der Aufschrift Stiftsbibliothek zum „Kuppelsaal“. Und noch bevor man diesen Kuppelsaal betritt, ist klar: Diese Bibliothek, dieser Ort, hat beim Betreten weder seine wirklichen Stärken noch seine Pracht verraten. Alles Bisherige war eine bescheidene Untertreibung. Der Kuppelsaal ist eine wuchtige, eine prächtige Ueberraschung. Der riesige Saal ist nichts anderes als eine frühere Kirche. In den Anfängen des 20. Jahrhunderts erbaut, würde sie heute als Kirche gewiss kein Ort sein, den der Guide Michelin mit dem Vermerk „vaut un détour“ oder gar „vaut un voyage“ beehren würde. Nachempfundener, kopierter Pseudobarock ist nunmal keine architektonische Besonderheit. Aber das hier, der Buchort unter der grossen weissen Kuppel, lohnt die zwanzig Minuten Fussweg oder die Fahrt in Richtung des Bregenzer Panoramaortes Gebhardsberg! Eine grosse, wunderbar renovierte Kirche, die nichts anderes ist als ein prachtvoller Büchersaal, als ein wunderbar ruhiger und grosszügig eingerichteter Leseort, als ein stimmungsvoller Veranstaltungsraum für Lesungen oder Vorträge und Konzerte. Man betritt den ehemaligen Kirchenraum, der seine frühere Bestimmung nicht verbirgt und staunt. Lateinische Ausdrücke und Namen von Heiligen an den Wänden, an der Decke sowie auf den Fenstern, auch die Orgel ist noch da. Aber anstelle der kirchlichen Altäre wurden hier filigrane Bücheraltäre in Chromstahl und hellem Holz aufgestellt. Der Bibliothekar, der von einer kommandoartigen Arbeitskanzel aus den gesamten Raum überblickt, erklärt einem die Geschichte des Bücherortes, der einst ein Privatschloss, dann das Benediktinerkloster St.Gallusstift, später eine Landwirtschaftsschule und Mädcheninternat war und der nach mehrjährigem Umbau 1985 als Landesbibliothek eröffnet wurde. Unglaublich hell ist diese lichtdurchflutete Bücherkirche, die allerdings erst in einer dritten Bauetappe 1993 eingeweiht werden konnte.
Ein Spaziergang den Bücherwänden entlang zeigt, dass in diesem Teil der Bibliothek die Jurisprudenz, die Theologie, die österreichische und Regionalgeschichte, die Regionen Süddeutschlands und der Deutschschweiz, die Reiseliteratur, Buchwesen und Informationswissenschaft gelagert sind. Es liessen sich noch mehr, viel mehr Büchergestelle in diesen früheren Kirchenraum hinstellen. Wie gut, dass dies unterlassen wurde, denn erst die grosszügige Platzierung der Büchergestelle gibt diesem Raum jene Weite, die in vielen Bibliotheken fehlt. Leichter Schwindel ergreift einen beim Besteigen der Wendeltreppen zu den allerhöchsten Bücherlagen, wo etwas weniger häufig konsultierte Bücher stehen wie etwa die 69 Bände „Germans to America. Lists of Passengers arriving at US Ports“ schon lange darauf warten, benutzt zu werden oder die zahllosen Jahrbücher der Auktionspreise. Der Kuppelsaal erinnert an die als Buchläden eingerichteten Kirchen im holländischen Maastricht und Zwolle, nur dass es hier viel ruhiger, viel kontemplativer zu und her geht, weil hier Studenten an der Arbeit sind.
Die Vorarlberger Landesbibliothek mit ihren 500 000 Büchern ist aber noch mehr als der Kuppelsaal. Im Hauptgebäude lagern auf mehreren Stockwerken nach Sparten geordnet die Bücher. Und anders als etwa in der Zentralbibliothek Zürich, kann man hier – mit wenigen Ausnahmen – alle Bereiche der Freihandaufstellung durchschreiten, die Bücher herausholen, an Arbeitstischen lesen oder die Bücher auch ausleihen. Wo früher Ordensangehörige gelebt und gearbeitet haben, wo später unterrichtet wurde, sind heute Bücher zuhause. Einzig ein Bereich bildet eine Ausnahme. Es ist die Stiftsbibliothek. Diese „Schatzkammer“ ist ein Jugendstilraum in dem wertvolle Handschriften, Inkunabeln und Alte Drucke aufbewahrt werden. In der Stiftbibliothek wird das kulturelle Erbe Vorarlbergs aufbewahrt, Besichtigungen sind nach Terminvereinbarung, die zum Teil sogar ganz kurzfristig erfolgen können. Die Vorarlberger Landesbibliothek ist eine wissenschaftliche Universalbibliothek sowie eine Regionalbibliothek mit Sammelschwerpunkt Vorarlberg. Die Studienbibliothek bietet zu allen Fächern eine Auswahl an unterschiedlichsten – vermehrt digitalen – Medien, die für Studium, Beruf, Ausbildung oder Freizeit von Bedeutung sind. Mit 600.000 € jährlich werden 10.000 neue analoge Medien, Zeitschriften, e-Medien, Datenbanklizenzen sowie Raritäten aus dem landeskundlichen Bereich gekauft. Die Bibliothek anschauen? Gewiss doch! Das Bregenzer Kunsthaus ist ein Touristenmagnet. Weshalb nicht den anderen architektonischen Pol dieser Stadt am Bodensee besuchen. Zwei sehenswerte Kulturorte, die kurioserweise beide von Schweizer Architekten gebaut wurden: Peter Zumthor war der Architekt des Kunsthauses, der Rapperswiler Adolf Gaudy war der Erbauer des Gallusstiftes. Über einhundert Kirchen erbaute er entweder neu oder sanierte sie. Dass aus einer seiner Kirchen ein Buchort werden könnte, hat er gewiss nicht ahnen können.
Vorarlberger Landesbibliothek
Fluher Straße 4
6900 Bregenz
T: 0043 5574 511 44005
vlb.vorarlberg.at
600 000 Medien!
Heinz Egger
„Zweimall habe ich erlebt, wie die Kirche profaniert wurde. Zuerst waren es die Nazis, dann eben die Vorarlberger Landesbibliothek.“ Er sei noch mit seinem Grossvater zur Messe gegangen. Ja, es sei schon eine schöne Bibliothek, aber eben, er habe ein wenig ein gespaltenes Verhältnis dazu. Bücher auswählen in einer ehemaligen Kirche. Dies erzählt ein älterer Mann, der mit uns auf den Bus gewartet hat. Dieser war verspätet, denn Schnee bedeckte die steile Strasse und das ehemalige Kloster liegt am Stadtrand, am Waldrand oberhalb der letzten Häuser.
Durch eine schmale Pforte neben dem schmiedeisernen Zufahrtstor gelangen Besucherinnen und Besucher in den grossen Garten. Der von Schnee freigeschaufelte Weg führt dem Haus entlang. In einer Nische steht ein Rückgabeautomat für Medien. Die Eingangstür ist bescheiden. Ein dreieckig vorspringender Anbau aus Glas mit weissen Rahmen. Die Türe führt in eine Schleuse, in der ein Gebläse am Boden für etwas Wärme sorgt. In der Halle zur Rechten eine alte, wunderbare Tür mit einem schweren Schloss, das ein Kunstschmied gestaltet hat. Zur Linken die Informationstheke, geradeaus die Gaderobe und die Kästchen, in denen man Rucksäcke und Taschen verstauen muss, denn ein Zutritt ist mit Gepäck nicht erlaubt.
„Ich bin neu hier“ steht auf einem grossen Plakat. Eine Werbung für neue Nutzerinnen und Nutzer der Bibliothek. Sie wirbt damit, dass etwa 600 000 Bücher, Zeitschriften, Hörbücher, Musik-CDs und Filme im Angebot stehen. Auch als Geschenk bieten sich die sogenannten VLB-Cards an. In einer Vitrine suchen spezielle Ausgaben von Büchern einen Käufer. Darunter ein kleines, handliches in Leinen gebundenes Büchlein von Franz Michael Felder. Es ist ein Buch für die Tasche. Es enthält eine Sammlung seiner Aphorismen: „Sei neumodisch und wirf die Welt über den Haufen.“ Felder lebte von 1839 bis 1869 und war ein Vorarlberger Schriftsteller, Sozialreformer und Bauer. Das nach ihm benannte Archiv sammelt und dokumentiert Vorarlberger Literatur und jene des Bodenseeraums. Die Archivbestände werden in einem separaten Katalog geführt.
Die Vorarlberger Landesbibliothek ist sozusagen das kulturelle Gewissen des Landes. So gibt es in den Beständen die Stiftsbibliothek, die nur auf Voranmeldung zugänglich ist, und Bibliotheken, die in Vorarlberg gewachsen sind. Seit den 1990er Jahren sammelt die Landesbibliothek auch alles, was über Norman Douglas verfügbar ist. Douglas wurde 1868 in Vorarlberg geboren. Er wurde mit seinen Reiseberichten und dem Roman „South Wind“ bekannt.
Der nächste Raum ist durch Glas vom Eingangsbereich abgetrennt. Der Gang mit Tonnengewölbe ist der erste Arbeitsraum. Darin stehen sieben PC-Arbeitsplätze, Gestelle mit Musik und Filmen. Gleich beim Eingang hängt hoch oben wieder das Plakat „Ich bin neu hier“. Darunter aber sind die Neuzukäufe und die Empfehlungen der Bibliothek präsentiert. David Grossmans fesselnder Roman „Kommt ein Pferd in eine Bar“, Laura Marchigs Sammlung von Gedichten „Lililth, Sinnlichkeit und Farben“, Wolf Biermanns Lieder und Gedichte „Im Bernstein der Ballade“ liegen auf. Bei den Neuzugängen zieht der Band „Walter de Gruyter – ein Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus“ von Angelika Königsleder das Auge an. Unter dem Gestell warten Dutzende weisse Kunststoffkoffer auf Studentinnen und Studenten. Es sind eigentliche Medienkoffer zu verschiedenen Gebieten des europäischen Rechts.
Die erste Tür nach rechts führt in einen zweiten Arbeits- und Lesesaal. 16 Arbeitsplätze bietet er. Drei Personen sitzen an den Tischen und sind in ihre Bücher vertieft. Um sie herum stehen Gestelle mit Zeitungen. Ein sehr breites Angebot, das Österreich, aber auch Deutschland, Liechtenstein und die Schweiz abdeckt. An fremdsprachiger Presse liegt die International New York Times, EL Pais, Le Monde und der Corriere della sera auf.
In den Gestellen stehen viele Lexika, beispielsweise ein Faksimile eines Conversations-Lexikons aus Leipzig von 1892, der ganze Brockhaus, die ganze Britannica, alle Bände des Meyers und weitere mehr. Dann sind natürlich auch viele Wörterbücher vorhanden. Lustig anzusehen ist der Einstecker in einem Bildwörterbuch, der weithin grün leuchtet und die Aufschrift „NEU!“ trägt. Erschienen ist das dicke Buch 2006. Ein 14-bändiges Wörterbuch der Akronyme und Abkürzungen von Institutionen und Organisationen, auch ein World Guide to Special Libraries steht dem Interessierten zur Verfügung. Unter Iran ist besipielsweise in dem Werk, das in der siebten Auflage von 2005 vorliegt, die National Library of the Islamic Republic of Iran aufgeführt ((www.nli.ir)). Sie wurde 1937 gegründet und beherbergt 590 000 Bücher, 556 000 Zeitschriften, davon 905 laufende Abonnements, 1 295 Landkarten, 77 200 Microfilme, 8 600 lithographische Drucke und 19 CD-ROMs. Wie sähe diese Liste wohl heute aus? Im hinteren Teil des Raums stehen die Gestelle mit den Zeitschriften. Es sind im ganzen Haus mehr als 1600 laufende Abonnements zu den unterschiedlichsten Themen. Französische und Englische befinden sich ebenfalls darunter.
Das eigentliche Bijou der Bibliothek ist der Kuppelsaal. Eben die eingangs beschriebene Kirche, die zum Bibliotheksraum wurde. Durch den Eingang sind nur Büchergestelle sichtbar. Chromstahl matt, helle Holztablare, kreissegmentförmige Gestelle, Buchrücken an Buchrücken. Zwischen den Gestellen hindurch erspäht man den freien Platz unter der Kuppel. Stühle stehen da, bereit für eine Präsentation oder ein Konzert. Die Heiligen schauen noch von den Wänden herab, durch die Fenster mit Glasmalereien strömt weiches Licht. Auf der rechten Seite stehen noch die Pfeifen in den drei Orgelprospekten. Die Bibliothek ist den Wänden nach zweistöckig, die obere Etage ist allerdings schmal, ausgenommen das grosse Podest über dem Eingangsbereich. In zwei Teilen des kreuzförmigen Baus sind es drei Stockwerke, die über eine enge Wendeltreppe zu erklimmen sind. Der Blick von oben herab ist schwindelerregend.
Natürlich ist es ratsam, via den Katalog ((http://vlb.vorarlberg.at)) auf Recherche zu gehen. Die Bücher sind aber klar nach Themen geordnet und so ist es auch möglich, in den Gestellen lustvoll zu stöbern und vielleicht auf das zu stossen, was man gar nicht gesucht, aber schon immer einmal haben wollte. Auf weiteren drei Stockwerken im ehemaligen Kloster finden sich Themen wie Architektur, Literatur und Kunst. Grosse Tafeln geben auf jeder Etage Auskunft, welche Signaturen und Themen sich da befinden.
Die Landesbibliothek versteht sich als Universalbibliothek. Als umfassende Literatur- und Mediensammlung dient sie dem lebenslangen Lernen.