Richard Jecht Haus / Handwerk 2
02826 Görlitz
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Zum Text von Heinz Egger
Aus einer anderen Zeit
Görlitz. Stadt an der Neisse. Ein schmucker Ort und Touristenmagnet zwischen Dresden und Wroclaw, dessen Altstadt den Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überlebt hat. Seit Ende des Krieges am Rande Deutschlands gelegen. Auf der Ostseite der Neisse liegt die polnische Stadt Zgorzelec, der Name musste eigens erfunden werden, weil hier früher auch Görlitz war. Man steigt am Bahnhof aus dem Zug von Dresden aus, schlendert durch die Berlinerstrasse mit ihren Gründerzeitbauten zum Postplatz und zum Obermarkt und befindet sich am malerischen Untermarkt. Schräg gegenüber der alten Ratsapotheke und der Waage befindet sich am unteren Ende des Untermarkts im ‘Barockhaus’ an der Neißstrasse Görlitz‘ berühmte Bibliothek. Eine Zeit lang hat der Deutsche Taschenbuchverlag (dtv) in grossen Inseraten und auf Schaufensterplakaten mit einem Bild der Bibliothek für sein Programm geworben. In Bildbänden über schöne und schönste Bibliotheken ist diese Bibliothek immer wieder zu sehen, ihr Büchersaal gehört als Interieurkunstwerk in seiner Schlichtheit zu den schönsten Bibliotheksräumen des frühen Klassizismus.
Der Bücherraum, ein Raum voller Literatur, ein stimmungsvoller Büchersaal mit vier schwer beladenen Bogenregalen aus Holz, mit zahllosen braunen Lederrücken, oft mit Goldprägungen oder mit grossen Titelaufdrucken verziert. Dem Charme dieser Bücherschatzkiste kann niemand entgehen. Der große Büchersaal wurde nach dem Vorbild der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle und adligen Privatbüchereien in Mitteldeutschland und Schlesien eingerichtet. Die Grundidee folgt barocker Theaterarchitektur – mit Triumphbögen des Wissens, die wie Kulissen den Saal gliedern.
Die alte Bibliothek mit ihren mehr als 150 000 Bänden, untergebracht im ersten Stockwerk des Barockhauses, ist ein Ort der Bildung, der im 18. und 19. Jahrhundert einer Gruppe von befreundeten Männern gedient hatte. Im April 1779 fanden sich in Görlitz, damals eine Stadt mit 7500 Einwohnern, etwa zwanzig Vertreter des gebildeten Bürgertums und des aufgeklärten Adels zusammen, um eine wissenschaftliche Gesellschaft ins Leben zu rufen, die sich den Namen «Oberlausitzische Gesellschaft zur Beförderung der Geschichts- und Naturkunde» gab. Ihre Mitglieder waren von den Ideen der Aufklärung, die die menschliche Vernunft in den Mittelpunkt stellte, getragen und forschten in allen Wissensgebieten. Entsprechend für die damalige Zeit universal waren auch die angelegten Buchbestände, die von naturwissenschaftlichen Werken über Grammatiken und Enzyklopädien bis hin zu historischer Literatur reichten. Hierher kamen die belesenen Gutsbesitzer aus der Umgebung der Stadt regelmässig, um miteinander zu diskutieren und um sich über die neusten Entwicklungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften zu informieren. Geschichte und Geographie der Oberlausitz sowie Wissen über Niederschlesien sind die Spezialgebiete der Bibliothek, ebenso die Schriften des Görlitzer Schuhmachers und Philosophen Jakob Böhme und frühe Literatur zur Meteorologie und Elektrophysik.
Das älteste handschriftliche Exemplar stammt aus dem 11. Jahrhundert, die ältesten Drucke gehen auf das Jahr 1475 zurück. In Vitrinen werden Folianten aus den Beständen der Bibliothek gezeigt, regelmässig finden Führungen statt.
Ein Leseraum nebenan mit zwölf Arbeitsplätzen bildet Treffpunkt für Forschende und für Zugereiste, die sich für Stadt und Region interessieren. Jakob-Böhme-Forscher, Dozenten und Studenten aus der ganzen Welt treffen sich hier bei der Arbeit an seinen Handschriften. Germanisten, die sich mit dem Werk von Arno Schmidt befassen, ist die Bibliothek der Stadt, in welcher der Dichter sein Abitur machte und wo sich der Nachlass der Arno Schmidt Gesellschaft befindet, ein wichtiger Ort. Die diensttuende Bibliothekarin musste bis vor wenigen Jahren jeweils ihren Arbeitsplatz räumen, wenn sich ein Benutzer an den Katalogkästen zu schaffen machte, so klein war der Arbeitsraum. Seit 2013 ist hier alles anders geworden, publikumsfreundlicher, heller, moderner. Stimmungsvoll geblieben ist der alte Bibliotheksraum mit seinen Regalbögen, die um 1775 nach den Plänen eines Mitglieds der Wissenschaftlichen Gesellschaft erstellt wurden. Die Bücher an der einen Wand reichen fast bis zur Decke, der Raum strahlt auch an kalten Wintertagen Wärme aus. Eine Lesung ist hier ein Erlebnis, besonders dann, wenn man sich zur Lesung durch den 1835 eingerichteten schmalen Büchergang mit seinen schlichten, weiss gestrichenen Regalen begibt, um sich dann zwischen den Bücherbögen hinzusetzen. Es ist, als sei man in eine andere Zeit gefallen.
Im Geiste der Aufklärung
Ein Orangenzweig ziert die Stühle, auf denen einst die Wissensdurstigen der „Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften” um einen grossen Tisch sassen, lasen und diskutierten. Das Mobiliar ziert den grossen Versammlungsraum im Barockhaus an der Neissestrasse 30. In diesem Haus traf sich von 1804 bis zu ihrer Auflösung 1945 durch die sowjetischen Besatzer die Gesellschaft. Gegründet wurde sie schon 1779. Seit 1951 ist das städtische Museum Nutzer des Hauses. Es war das erste städtische Museum der DDR. Die Bibliothek ist heute Teil des Kulturhistorischen Museums Görlitz. Die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften ist 1990 neu gegründet worden.
Zitrusbäume tragen gleichzeitig Früchte und Blüten. Auf den Stühlen ist es ein schönes Symbol fürs Lernen und für die Wissbegier. Und in meinen Augen steht es grundsätzlich für jede Bibliothek. Denn jedes Studium ist ein Erblühen, jedes gelesene Buch eine Frucht, aus der Neues entstehen kann.
Die heutige Bibliothek besteht aus mehreren Teilbibliotheken und Sammlungen. Sie ist so umfangreich, dass sich eine Führung lohnt. Wir tauchten mit Karin Stichel in dieses Bücheruniversum ein. Karin Stichel ist wissenschaftliche Bibliothekarin und kennt ihre Bibliothek ausgezeichnet. Die ältesten Bücher stammen aus der Sammlung von Johann Gottlieb Milich, der von 1678 bis 1726 lebte. Er sammelte als Protestant unter anderem Handschriften aus der Reformation. Görlitz ist seit 1525 lutherisch. Er vererbte seine etwa 7000 Bände und 200 Handschriften der Stadt Görlitz. Dabei legte er in seinem Testament fest, dass die Sammlungen für jedermann öffentlich zugänglich sein sollen. So entstand in Görlitz die erste öffentliche Bibliothek.
Die Milich’schen Bestände wurden am Ende des 18. Jahrhunderts mit jenen des alten Klosters zusammengeführt. Die Bestände beider Bibliotheken führen bis ins 14. Jahrhundert zurück. Legate und Geschenke machten die Bibliothek zu einem Bijou. Allerdings verlor die Bibliothek auch wertvolle Bücher durch Verlagerung im Zweiten Weltkrieg. Vor allem Handschriften und Inkunabeln sind betroffen. Sie lagern teilweise im heutigen Wrocław. Es besteht eine enge Zusammenarbeit mit Polen, beispielsweise zur Digitalisierung der fehlenden Bestände.
Auch die Gründer der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, es waren der Jurist, Historiker und Sprachforscher Karl Gottlob Anton (1751 – 1818) und der Gutsherr und Naturwissenschaftler Adolf Traugott von Gersdorf (1744 – 1807), überliessen der Gesellschaft ihre umfangreichen Bibliotheken von je etwa 10 000 Bänden. So besitzt die heutige Bibliothek über 150 000 Bücher.
Natürlich lagern in den Regalen der Bibliothek viele Perlen. Eine davon erzählt von einem berühmten Görlitzer. Er heisst Bartholomäus Scultetus. Er stand in Kontakt mit den berühmten Mathematikern und Astronomen seiner Zeit. Ein Buch von Tycho Brahe mit Widmung an Scultetus zeugt davon.
Ein weiteres Buch wurde erst zum Schatz, nachdem festgestellt wurde, dass es nicht auf Russisch, sondern Weissrussisch in Prag 1517 – 1519 gedruckt worden ist. Der Übersetzer heisst Franciscus Skaryna. Die Bedeutung seiner Bibel kann mit jener von Luther bezüglich Einfluss auf die Sprache verglichen werden.
Ein Görlitzer wurde weltberühmt, aber erst nach seinem Tode. Es ist der Mystiker und Theosoph Jakob Böhme (1575 – 1624). Zu Lebzeiten wurde nur ein Buch von ihm gedruckt. Erst die nach seinem Tode herausgegebenen Schriften begründeten seinen Weltruf, dem heute noch Forscher nach Görlitz folgen. So erzählt Karin Stichel von einem japanischen Wissenschaftler, der zwar Deutsch lesen könne, die Sprache aber nicht spreche.
Adolf Traugott von Gersdorf reiste zusammen mit seiner Frau und Herrn von Meyers 1786 durch die Schweiz. Er führte ein Tagebuch, das bis zum Ende der Reise über 1000 Seiten füllte. Unterwegs sammelte er Mineralien. Beides ist im Bestand der Bibliothek vorhanden. Die ETH Zürich bietet die vollständige digitale Edition des Tagebuchs als Faksimile und Transkription an: https://gersdorf.collegium.ethz.ch
Etwa 80% des Bestandes der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften sind historische Bücher. Diese gilt es sorgfältig zu pflegen. Dazu ist eigens eine Buchbinderin zuständig. Und die wertvollen Bücher werden jährlich anlässlich der Revision, während der die Bibliothek für eine Woche geschlossen ist, angeschaut. Die Bibliothek steht in einem alten Kaufmannshaus. Die klimatischen Verhältnisse sind so stabil, dass für die wertvollen, alten Bücher keine Klimatisierung nötig ist.
Ein ganz besonderes Bijou, wegen dem viele Besucherinnen und Besucher ins Kulturhistorische Museum Görlitz kommen, ist die klassizistische Bibliothek. Der Bibliotheksraum wurde 1804 eingerichtet. Die Aufstellung und Gliederung des Bestandes wurde nicht verändert. Die Bibliothek hatte bereits ab 1835 einen Bibliothekar.
Vier raumhohe Gestelle mit einem torartigen Durchgang in der Mitte stehen frei wie Triumphbogen quer im Raum. Sie fassen mit den Gestellen den Wänden entlang etwa 13 000 Bücher. Alles ist aus schönem Holz gefertigt. Stellt man sich in die Mitte vor den ersten Torbogen, so sehen die weiteren Reihen aus wie Kulissen im Theater. Und der Raum erscheint „unendlich” tief. Ausser dem Holz und den unzähligen Buchrücken gibt es keinen Schmuck. Wände und Decken sind weiss – da wurde einst gar der Stuck abgeschlagen, um nicht von den Büchern abzulenken. Heute Zeigen Deckenmalereien den ursprünglichen Stuck.
Die heutige Bibliothek wächst weiter. Gesammelt werden vor allem Lausica, Silesiaca und Sorabica – also Werke aus der Lausitz, Schlesien und dem sorbischen Sprachgebiet. Dies sind vor allem Bücher der Volkskunde und Belletristik. Damit erfüllt die Bibliothek auch heute noch das Versprechen des Orangenzweigs.
PS: Wer von daheim aus einen Einblick in das Museum und die Bibliothek nehmen will, kann das gut virtuell tun: https://my.matterport.com/show/?m=kyCfEi2zhVC