„Insel der Glückseligkeit“
Michael Guggenheimer
Frankfurt Nordend. Rotteckstraße 13, Ecke Mercatorstraße. Die Buchhandlung heisst „Land in Sicht“. Drei grosse Schaufenster an der Mercatorstrasse, jedes einem Thema gewidmet. Das mittlere gilt Europa. Seit Wochen beherrschen Griechenland, die Not der Flüchtlinge im Mittelmeer und die EU die Schlagzeilen. Wer mehr Hintergrundinformation zu den drei Themen sucht, ist hier richtig. Bücher von Navid Kermani, Joschka Fischer, Geert Mak, Adolf Muschg, Thomas Meyer, Karl Schlögel liegen im Schaufenster. Kermanis „Nach Europa“, erschienen im längst aufgegebenen Ammann Verlag und seit langem vergriffen, ist auch da: „unverkäuflich“ steht auf einem Zettel neben dem Buch.
Ein grosser Laden in L-Form. Hier hat sich kein Innenarchitekt ein Denkmal gesetzt. Bücher, Bücher und nochmals Bücher. Hier arbeiten drei Frauen und zwei Männer inmitten einer übervollen reichen Bücherwelt. Im linken Ladenflügel Kinder- und Jugendbücher. Und die Belletristik, sehr reich ausgestattet, rechts im grösseren Ladenteil die Sachbücher. Weltoffen das Angebot. Man muss weit suchen, bis man eine Buchhandlung findet, in der ein Gestell „Persische Literatur“ heisst, ein anderes „Asiatische Literatur“ und wo die US-amerikanische Literatur 8 breite und schwer beladene Tablare aufweist. Die französische Literatur zählt 7 Tablare, die lateinamerikanische 5, die italienische 4, die arabische 2. Reich auch das Angebot an osteuropäischer Literatur und an deutschsprachiger Prosa.
Hier sind eindeutig fünf sehr belesene Buchhändler an der Arbeit. Soziologie, Philosophie, Ethnologie, Psychoanalyse, Politik, Judaica, Umwelt, Geschichte, Nationalsozialismus lauten Themen im Sachbuchbereich. Hohe Büchergestelle und bewegliche breite Korpusse, breiten Inseln im Laden gleich, die alle auch seitlich schwer beladen sind, locken zum Stöbern und Verweilen. An einem kleinen Caféhaustisch sitzt eine Buchhändlerin mit einem Verlagsvertreter. Während an anderen Buchhandlungen nachgerechnet wird, wie viele Exemplare einer Neuerscheinung bestellt werden sollen, wird hier von jedem Buch, das Interesse findet, nur ein Exemplar bestellt. Das bringt mehr Neuerscheinungen in den Laden. Und ist ein Titel verkauft, wird er gleich nachbestellt, um am nächsten Tag wieder vorrätig zu sein. Nicht die “Umschlagsgeschwindigkeit” eines Buches entscheidet darüber, ob es im Sortiment von „Land in Sicht“ vorhanden ist. Die gängigen Top-Bestseller sucht man hier vergeblich. Beim Stöbern wird klar: Hier kaufen wirkliche Lesende ihre Bücher ein, Leute, die wissen, was sie suchen und die sich gerne von neuen Buchtiteln und Autoren überraschen lassen. Und weil „Land in Sicht“ nicht an einer viel frequentierten Passantenlage im Stadtzentrum liegt, ist auch klar, dass der Laden kaum Laufkundschaft aufweist, dafür aber treue Kunden. Im Nordend leben viele Akademiker und Leute aus dem Bereich der kreativen und freien Berufe, die lieber hier ihre Bücher einkaufen als in einem Grossladen, der einer Ladenkette angehört.
Lokale wie „Strandcafé“, „Café Grössenwahn“, das Schwulenzentrum „Anderes Ufer“ waren früher in der unmittelbaren Gegend domiziliert. „Land in Sicht“ ist eine Gründung der Zeit der wunderbaren Spontisprüche wie „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, jener Zeit, in der der Name der Zeitschrift Pflasterstrand, des Sprachrohrs der linken Sponti-Szene in Frankfurt, noch vertraut war. „In jenen Jahren schuf sich die politische und ökologische Alternativszene, hervorgegangen aus der Studentenbewegung, im Nordend ihre Cafés, Kneipen und Läden. Der Buchladen ‚Land in Sicht’ ist einer davon“, heisst es auf der Homepage der Buchhandlung. Wie sehr der Buchladen aus der Bewegung kritischer Studenten entstanden ist, zeigt auch die Tatsache, dass der am häufigsten bei „Land in Sicht“ zu Lesungen und Diskussionen eingeladene Autor Paul Parin war, der hier elf Mal auftreten konnte. Ein Abend zu dem französischen Ethnologen und Schriftsteller Michel Leiris zu Beginn der achtziger Jahre und Diskussionen mit den Zürcher Ethnologen und Psychoanalytikern Goldy Parin-Mathey, Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Mario Erdheim haben Ethnologie, Psychoanalyse und Kulturanthropologie zu einem Schwerpunkt des Ladensortimentes gemacht; die Werke von Freud waren freilich schon vorrätig. Andererseits führte die traditionelle Lesung mit Dichterinnen und Dichtern aus aller Welt, von T.C. Boyle bis Aleksandar Tisma, zu einer vielfältigen Erweiterung des belletristischen Sortiments.
Die Homesite „Helene Herz“, die Frankfurter Orte à fonds kennt, meint: „Es empfiehlt sich, so oft es nur geht, in diese etwas versteckt im Nordend liegende Buchhandlung einzukehren. Und nicht nur wegen der grandiosen Bestückung des Ladens oder weil Sie das Gefühl haben, die Truppe hat jedes Buch, das sie verkauft, vorher selbst gelesen – es geht dergestalt entspannt dort zu, dass Sie sich auf einer Insel wähnen. Einer Insel der Glückseligkeit.“ Eine Überwachungskamera hängt in jenem Teil des Ladens, in dem die Sachbücher sind. Sie hat das Gesicht eines Schweins und ist aus einem Schuhkarton gebastelt worden. Und natürlich fehlt ihr jede Optik und Überwachungstechnik. Unter ihr sitzt der neugierige Autor dieser Zeilen am runden Caféhaustisch und liest Navid Kermanis „Nach Europa“, um das Buch nachher wieder ins Schaufenster zurückzulegen. Silke Schmidt, eine der Buchhändlerinnen und seit 18 Jahren mit dabei, ist gerade mit dem Fahrrad zum Literaturhaus unterwegs, auf dem Gepäckträger hat sie eine Schachtel mit Büchern für die Lesung von Clemens Meyer. Die Sorge zur Umwelt reicht bis hin zum Büchertransport.
Land in Sicht – Die Buchhandlung im Nordend
Rotteckstrasse 13
60316 Frankfurt
T: 0049 69 443095
www.landinsicht.eu
Wie ein Blütenstrauss
Heinz Egger
Herbert liebt die Sicht: An der Decke hängt ein Drachenboot. Gelber Rumpf, zwei Masten, Segel daran. Und damit es gut fliegt, hat es Flügel. Sie leuchten gelb, rot, grün und blau, wie der Regenbogen. Still zieht es dort oben seine Bahn und Herbert stellt sich vor, wie es wäre, darin zu sitzen und Ausschau nach Land zu halten. Gern folgt er den Kabeln mit den Leuchten, die in jeden Winkel des Lokals führen. Es sind wie Wellenspuren vorbeifahrender Schiffe. Am liebsten setzt er sich an den Tisch unter dem Drachenboot. Oft gibt es da einen Kaffee, einen echt italienischen Espresso, und ein Glas Wasser dazu. Er liebt den Eindruck leichter Unordnung, die einfachen, aus Fichtenholz gefertigten Gestelle, die bis an die Decke reichen. Jedes Tablar ist voll. Wer die hohen Regalebenen erreichen will, braucht einen der kleinen Holztreppen, die entlang einer Metallleiste verschoben werden können.
Wenn Herbert ein Buch sucht, weiss er dass die Wahrscheinlichkeit gross ist, dieses zu finden. 15’000 Bücher seien an Lager. Eben, Land in Sicht für den Suchenden. Und die Buchhändlerinnen und Buchhändler kennen ihren Laden gut. Sie arbeiten die meisten seit Jahren hier. Und hat jemand eine Frage, so sind sie zur Stelle und helfen mit ihrem breiten Wissen. Jeder von ihnen hat ein wenig seine Spezialgebiete, man kann schliesslich nicht alles selbst gelesen haben. Aber man hilft sich da gegenseitig aus. Es ist fast wie heimkehren, durch die Tür an der Rotteckstrasse zu treten. Die Tablare sind von Hand beschriftet, eine persönliche Note. Feingliedrig aufgeteilt ist die Belletristik: osteuropäische Literatur, jüdisch-hebräische. Da fallen Autoren auf, wie Aaron Appelfeld, Hila Blum, Lizzy Doron, Assaf Gavron, Zeruya und Meir Shalev, David Grossmann, Tuvia Tenenboom. Dann findet sich ein Fach mit griechischer, türkischer, persischer, asiatischer, amerikanischer, spanischer, italienischer und französischer Literatur. Einfach überwältigend, diese Auswahl, denkt Herbert immer wieder. Gern stöbert er im Gestell der deutschen Lyrik. Auch heute nimmt er einen Gedichtband in die Hand: Mascha Kaléko, Das lyrische Stenogrammheft.
Am kleinen runden Tisch unter dem Drachenboot blättert er darin. Und trifft auf eine wunderschöne Strophe, die genau zum Tag passt:
Dieser Tag ist wie ein Blütenstrauss,
Schönstes Phantasiegeschenk der Träume,
Durch das Blätterwerk erwachter Bäume
Wirft der Himmel blaue Bänder aus.
Der Ventilator summt hinter dem Kassabereich. Die Schaufenster sind ohne Bücher, damit keines im heissen Sonnenlicht Schaden nimmt. Eine Beschattung der grossen Glasflächen gibt es nicht.
Die Buchhändlerin Silke Schmidt schliesst eine blaue Plastikbox, setzt den Helm auf und geht zum Fahhrad. Mit starken Gummibändern fixiert sie die schwere Kiste auf dem Gepäckträger. Auslieferungen werden normalerweise so erledigt. Das gefällt Herbert. Es ist ein Element der Buchhandlung, die aus der Alternativszene hervorgegangen ist.
In seinem Rücken stehen Bücher zur Philosophie, Soziologie, Psyche, Politik, Ethnologie und Geschichte.
Die Neuerscheinungen liegen auf drei grossen Rollkorpussen. Werden Sie in den Belletristikbereich verschoben, dann gibt es viel Platz fürs Publikum an Lesungen. Sie erinnern Herbert an die Zeiten, als Paul Parin und Fritz Morgenthaler mit Lesungen in der Buchhandlung auftraten. Und wie dadurch die Abteilung Psyche erst Eingang gefunden hat.
Als Herbert aufsteht, um das Kaléko-Büchlein zu zahlen, muss er lächeln. Wie sich doch die Zeiten geändert haben. Heute darf ein hellrosa leuchtender Band auf dem Präsentationsständer stehen, auch wenn sein Titel „Vögeln ist schön“ heisst. Ist es vielleicht eine Reminiszenz an vergangene Jahre? Da war Nordend keine allzu feine Gegend. Die Gentrifizierung schreitet aber stetig voran, sagt Buchhändler Schiefelbein. Davon zeugen Neubauten und renovierte Häuser mit teuren Wohnungen.