Brückenbauer
Michael Guggenheimer
Genf. Rue de Berne, Rue de Zurich, Rue de Neuchâtel, Rue de Fribourg. Das sind Strassen im Pâquisquartier, dem quirligen Stadtteil zwischen dem Bahnhof Cornavin und dem See. Schweizer Städtenamen in einer Gegend, in der die Küche des Orients dominiert. Libanesische Restaurants und Imbissbuden, Indische Lokale, Zwei- und Dreisternhotels, das Jazzlokal Sud des Alpes, Frisörsalons, die afrikanische Kundschaft anziehen, Stundenhotels und viel Leben auf den Trottoirs. Und inmitten des lebhaften Stadtteils als Oase die „Librairie arabe l’Olivier“, das Kulturhaus von Alain Bittar. Ein Mann wie ein Fels in der Brandung: Wie er dasitzt, wenn man den Laden betritt. Zuerst ein strenger, prüfender Blick und gleich darauf die freundlichsten Augen, die man sich vorstellen kann. Ein gesprächiger Mann, der einen einlädt, Platz zu nehmen und gerne einen Kaffee serviert und das Gespräch mit seinen Kunden mag.
Alain Bittar. Grauer Bart, graues Kopfhaar, ein Mann in den Sechszigern, schwarzer Pullover, schwarze Hosen, ein langer leuchtend roter Schal, in der Linken ein Zigarillo. Helen Lehmann von der Buchhandlung Caligramme in Zürich und Alain Bittar dürften die beiden einzigen Buchhändler der Schweiz sein, die während der Arbeit rauchen. Und es kann sowohl hier wie dort passieren, dass man den Laden mit einem Buch verlässt, das leicht nach Zigarettenrauch riecht. Wie ein Kapitän sitzt er inmitten seines Bücherimperiums: Vor sich der Bereich der Bücher in Arabisch, hinter ihm der Bezirk der Bücher in französischer und englischer Sprache. In beiden Gebieten, auf Vorderdeck und Hinterdeck, sind es Bücher, die mit der arabischen Welt zu tun haben: Romane, Sachbücher, religiöse Literatur, Kochbücher, politische Bücher, Geschichtsbücher. „Das ist eine arabische Buchhandlung, keine muslimische“, erklärt der stattliche Mann. Seit 38 Jahren hält er in einer früheren Metzgerei die Bücherfestung, die er im Laufe der Zeit mit eigener Hände Arbeit ausgebaut hat: Eine Empore oberhalb des Bezirks der Bücher in arabischer Sprache, dient als Café, unterhalb des Ladens die Kellergalerie mit Ausstellungswänden, in der auch Vorträge und Konzerte stattfinden. Und gleich neben dem Raum hinter seinem Rücken befindet sich hinter einer Tür eines der letzten Internetcafés Genfs. Sollte dieses Café, in dem im Vergleich zu früher fast gähnende Leere herrscht, frei werden, und wäre genügend Geld vorhanden, Alain Bittar würde am liebsten sein Reich noch um jenen langgestreckten Raum vergrössern.
Alain Bittars Bücherladen ist das Nadelöhr der arabischen Literatur in arabischer Hochsprache für die Schweiz. Noch vor wenigen Jahren trafen die Bücherpakete aus Beirut und Tunis, aus Rabat und Kairo häufiger ein. Die Zensur in mehreren arabischen Ländern und das Internet hätten dazu geführt, dass jetzt nur noch alle zwei bis drei Monate ein Bücherpaket aus Beirut oder Kairo an der Rue de Fribourg eintreffe. Das von Bittar im Jahr 2013 gegründete Institut des cultures arabes et méditerranéennes ist von einem Verein getragen und stützt Bitars erweitertes Ladenkonzept zu dem Vorträge und Konzerte gehören. An der Spitze des Trägervereins steht heute der ehemalige Schweizer Generalkonsul in New York François Barras. Bittar selber hat zwar fast sein ganzes Leben in der Schweiz verbracht, die Schweizer Staatsbürgerschaft hat er trotz mehrmaligem Versuch nicht erhalten. In Ägypten und im Sudan hat er seine ersten Jahre verbracht, die Schulen hat er in der Schweiz absolviert. Arabisch hat er erst während eines Aufenthalts als junger Erwachsener in Palästina gelernt, im Elternhaus war Französisch die Umgangssprache. „Ich bin ein weisser Sudanese und christlicher Araber, der in Kairo geboren wurde und dessen Vorfahren aus dem Libanon stammen“, sagt er und fügt an: „Je veux créer des ponts entre les cultures“. Die Zeit in Palästina ist ihm bei seinen Versuchen, Schweizer Staatsbürger zu werden, in die Quere gekommen. Heute besitzt er dank seiner Ehe mit einer Französin die französische Staatsbürgerschaft. Die Médaille d’Or der Republik Genf hat seine Einbürgerung in der Schweiz nicht beschleunigen können, obschon sich sogar die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreyfus sich für ihn eingesetzt hat. „Man muss schweizerischer sein als Schweizer“ gibt Bittar lachend zu verstehen.
Bittars Betrieb ist ein Einmannladen. Einzig seine Tochter hilft bei der Buchhaltung aus. Sie ist gleichzeitig die Administratorin des Vereins und leitet einen Verein, der sich dafür einsetzt, dass Kinder arabischer Eltern in Genf neben dem regulären Schulunterricht auch noch die arabische Hochsprache erlernen und pflegen können. Bittars Anliegen ist es, die Schönheit und den Reichtum der arabischen Kultur bekannt zu machen. Er beliefert arabisch sprechende Leser in der ganzen Schweiz mit Büchern, manche Universitätsinstitute bestellen bei ihm ihre Bücher, in den Sommermonaten sind Touristen aus arabischen Ländern im Laden anzutreffen, die in Genf Bücher kaufen, die in ihren Heimatländern verboten seien. „In der Westschweiz leben heute bloss etwa 15 000 Araber“, sagt Bittar. „Exponenten der Schweizerischen Volkspartei SVP meinen, es seien viel mehr.“
Die Bücher in Bittars Sachbuchbereich sind nach Regionen geordnet. Libanon, Syrien, Palästina, Irak, Yemen, Tunesien, Algerien, Jordanien sowie nochmals der Maghreb als Oberbegriff, kein Land und keine Region fehlt, sogar die Berber sind mit einem eigenen Tablar bedacht. Zusätzlich sind die Büchertitel der Literaturen der nicht-arabischen Länder Iran und die Türkei in den Büchergestellen zu sehen. Ein Bereich heisst Littérature amoureuse, ein anderer Islam politique. Wie reich die Auswahl an übersetzten Romanen aus dem arabischen Raum ist, zeigt ein Blick auf die Namen der Autoren: Khalil Gibran, Yasmina Khadra, Amin Zaoui, Tariq Ali, Ahmed Gaadawi, Fouad Laroui, Driss Chraibi, Amin Maalouf, Alan El Aswany, Hassan Blasim und Sonallah Ibrahim. Die Liste der arabischen Autoren, deren Werke in französischer Sprache vorliegen, könnte problemlos noch verlängert werden.
Kein anderes Buchgeschäft in der französischsprachigen Schweiz ist so reich dotiert mit Literatur aus dem arabischen Raum. Alain Bittar erinnert sich an die beiden Buchhändlerinnen der Mittelmeerbuchhandlung „Mille et deux feuilles in Zürich, die ihn in seinem grossen Bücherstand am Genfer Salon du livre et de la presse aufgesucht hätten und die er manchmal mit Büchern beliefere. Wunderbar die Kochbücher: „Ma petite épicerie marocaine“, „Authentic egyptian cooking“, „La table palestinienne“, „Manger libanais“ oder „Ce wekend je teste les houmous“. Dass nicht nur Belletristik, Bildbände, Kochbücher und Reiseführer in der Buchhandlung aufliegen, zeigen Titel wie „Plaidoyer pour un Islam apolitique“, „Monde arabe entre transition et implosion“, „Arabie Saoudite – de l’influence à la décadence“, „Alep – La guerre et la diplomatie“ oder auch „Musulmans de France: La grande épreuve“. Wörterbücher und Lernbücher für jene, die die arabische Hochsprache erlernen wollen, ergänzen das Angebot. Über die arabischen Titel, die den vorderen Geschäftsraum füllen, kann der Schreibende keine Auskunft geben, weil er der arabischen Sprache nicht mächtig ist.
Librairie arabe l’Olivier
5, rue de Fribourg
1201 Genève
T: 022 731 84 40
www.icamge.ch
Einladung zum Tee
Heinz Egger
Es ist ein unscheinbarer Laden in der Rue de Fribourg. L‘Olivier extistiert dort aber schon seit 38 Jahren! Der Buchhändler ist Alain Bittar. Er ist allerdings viel mehr als der Eigentümer der Buchhandlung. Er gibt es schnell und unumwunden zu: Die Buchhandlung ging vor fünf Jahren Konkurs. Eine neue Struktur in Form eines Vereins erlaubt es, die Buchhandlung weiterzuführen. Sie werfe aber nur knapp den Hauszins ab, sagt Alain Bittar. Es sind viele Schweizer, die bei ihm französische und englische Bücher kaufen. Dem arabischen Buch gehe es wegen dem Internet schlecht, sagt er. Die Autorenrechte werden nicht respektiert, fügt er an, sofort seien PDFs der neuen Bücher im Umlauf. Früher sei der Olivier Anlaufstelle für Bücher gewesen, die in einem arabischen Land verboten worden seien. Das Verbot im einen Land heisse noch lange nicht, dass das Buch nicht erscheinen könne.
Bei einem Tee – Pfefferminze mit Schwarztee und Zucker – erzählt uns Alain Bittar seine Geschichte. Sie ist sehr spannend und man versteht aus ihr heraus, warum er die Buchhandlung führt und das ICAM, das Institut Cultures Arabes et Méditerranéennes gegründet hat. Die Familie Bittar stammt ursprünglich aus dem Libanon. Sie zog nach Süden, nach Ägypten und Sudan. Der Vater schickte Alain mit sechs Jahren in die Schweiz in ein Internat. Alain Bittar ist geblieben. Seine Familie war ganz „francophone“, wie er sagt. So sprach er kein Arabisch, als er mit knapp 20 Jahren zum ersten Mal den Libanon bereiste. Gelernt hat er die Sprache bei den Palästinensern. Als er wieder in der Schweiz war, gründete er seine arabische Buchhandlung L‘Olivier. Sie war als Brücke zwischen Arabern und Israeli gedacht. Diese Funktion ist auch im Namen heute noch zu sehen: Cultures Méditerranéennes.
Die Buchhandlung besteht aus einem grossen, hohen Raum mit Galerie und einem kleineren, in dem die übersetzte Literatur aus dem Arabischen zu finden ist. Es sind Bücher auf Französisch und Englisch. Auf der Galerie gibt es Raum für ein kleines Café. Ein paar Tische, eine Theke und an den Wänden Bilder. Die Ausstellung wechselt. Momentan sind Bilder eines Syrers, Irakers und Tunesiers ausgestellt. Wunderbare Farben, viel Ornamente – eine wirkliche Zier der Galerie, deren Geländer Alain Bittar eigenhändig gestaltet hat. Er habe stundenlang Ornamente ausgesägt, sagt er. Der Umbau des Ladens in einen arabisch anmutenden Ort erfolgte mit Hilfe eines Bekannten.
Heute hat modernste Technik ins Lokal Einzug gehalten. Im Untergeschoss findet sich ein Veranstaltungslokal. Dort werden Veranstaltungen per Video aufgenommen und auf einen grossen Bildschirm gegenüber der Café-Galerie übertragen. Es sind auch Live-Übertragungen ins Internet möglich. Die Aufnahmen sind nach der Veranstaltung auf der Website unter „Nos activités en vidéos“ zugänglich.
Das Veranstaltungsprogramm ist riesig. Da läuft immer etwas. Vom Konzert über Vorträge zu Bilderausstellungen und Kochkursen. Ein besonderer Anlass ist das Café sagesse de l‘humanité – eine Art Philosophen-Club. Ohne Voranmeldung finde man da kaum einen Platz, sagt Alain Bittar. Das Spannende an dieser Veranstaltung ist die Zusammensetzung der Leitenden und Diskutierenden. Am Tisch sitzen ein Rabbiner, ein Psychiater mit islamischem Hintergrund, ein Buddhist und ein Priester. Alain Bittar schwärmt von der Redegewandtheit und dem Witz des Rabbiners. Und er sei froh, habe man im Psychiater einen Mann gefunden, der ihm Paroli bieten könne. Das Treffen findet monatlich statt. Die Themen betreffen alle Religionen, beispielsweise Mystik und Begehren, Spritualität und die Verhinderung eines Zivilisationskonflikts, Meinungs(äusserungs)freiheit und Blasphemie, religiöse Identität und Altruismus. Die Themen sind anspruchsvoll, wie die zitierte Liste aus dem Jahr 2015 zeigt.
Es ist ein sonderbares Gefühl, vor den Gestellen zu stehen, die schönen Schriftzeichen zu betrachten und der steigenden Verwirrung Herr zu werden. Was wohl alles in den Büchern steht? Einzig das Tabalar mit den Büchern in Etuis mit Reissverschluss kann ich zuordnen. Koranausgaben. Sonst schauen mich die Titelbilder an, ich erwäge, um was für eine Geschichte es sich handeln könnte, weiss aber, dass Titelbilder zur Verkaufsförderung designt werden. Zudem könnten unterschiedliche kulturelle Werte auch auf falsche Fährten führen.
Bei den Fenstern zur Rue de Fribourg steht ein Gestell mit Filmen auch ein paar Audio-CDs liegen dort. Daneben zwei mit schönen Tüchern. Sie stammen aus Tunesien, sagt Alain Bittar. Auf einigen Tüchern liegen Parfümfläschchen: Rose, Ambre, Musc blanc.
Im Durchgang zum Raum mit lateinischer Schrift, steht ein Zeitungsständer mit arabischen Blättern. Auf eines weist Alain Bittar mit Stolz, aber auch mit etwas Furcht hin: Le Monde Diplomatique auf Arabisch. Dass diese auf Arabisch erscheint, hat er initiiert. Die Übersetzung und der Druck erfolge in Tunesien, sagt er. Die Auflage ist 45 000. Die Zeitung ist in der Schweiz nur im Olivier erhältlich.
Im Raum mit den französischen und englischen Übersetzungen liegt eine grosse Zahl Bücher aus dem französischen Verlag libretto auf. Zum Beispiel: Muhammad Al-Mahdi, Les dix soirées malheureuses, oder die anonymen „Sublimes paroles et idioties de Nasr Eddin Hodja“.
Ich entdecke auf Französisch die „Grosse Geschichte der arabischen Welt“ und das Buch „Weisheiten des Orients“. Auf einem Tablar mit der Aufschrift „Petits livres, grandes idées“ liegen aus dem Verlag Sindbad Poésiebücher. Darunter Shlomo Sand „Les mots de la terre – Les intellectuels en Israël“. Drei Dictionnaires amoureux – einer allgemein zum Orient, einer zum Libanon und einer zum Islam. Erzählugen für Kinder, zahlreiche Bücher zum Sufismus. Wahrlich in dieser Buchhandlung gäbe es eine Welt zu entdecken.