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Tzomet Sfarim – צומת ספרים, Shefayim (IL)

 

Ma kore – Was passiert?

Michael Guggenheimer

Alter Standort der Buchhandlung mit Hinweis auf den neuen

Von der Küstenstrasse Nummer 2 aus, die von Tel Aviv nach Norden führt, ist auf der Höhe der Ortschaft Ga’ash linkerhand eine etwas heruntergekommene Fabrikliegenschaft zu sehen, auf der eine grosse Werbefläche in Hebräisch auf die Buchhandelskette „Tsomet Sfarim“ hinweist. „Es lohnt sich immer, bei Tsomet einen Halt zu machen“ steht in grossen Lettern auf einer Kunststoffplane an einer Hauswand. Bis 2016 befand sich hier ein wahres Büchereldorado: Eine Fabrikhalle mit Büchern, Büchern und nochmals Büchern in hohen Regalen und auf Tischen gestapelt . Alles glich eher einer Warenauslieferung für Gedrucktes als einer Buchhandlung. Und gerade das war der Reiz des Ortes: Man konnte in langen Hallenwanderungen Entdeckungen machen, weil es hier endlos viele Bücher gab. Wer heute bei der etwas heruntergekommen wirkenden Halle anhält, wird auf das nahe Einkaufzentrum von Shefayim hingewiesen: Das Bücher-Grosslager wurde geschlossen, „Tsomet Sfarim“ ist umgezogen, ist kleiner geworden. Aus dem Bücher-Grosslager wurde ein grosszügig eingerichteter Bücherladen für hebräische und englischsprachige Bücher.

Das Bücherlager von einst gehört zur typischen „Tsomet“ Geschichte. Mehrere israelische Verlage, die dafür sorgen wollten, dass ihre Bücher auch noch Monate nach der Herausgabe neuer Titel nicht von den Augen der Leser verschwinden und eines Tages entsorgt werden, gründeten im Jahr 2003 eine Buchhandelsfirma, deren Ziel es von Anfang an war, zusätzlich zur Präsentation ihrer Neuerscheinungen stets auch eine gute Plattform für die eigene Backlist zu ermöglichen. Über 4500 Neuerscheinungen in hebräischer Sprache gibt es pro Jahr. Und wenn man bedenkt, wie präsent die Sprachen Englisch und Russisch in diesem Einwanderungsland sind, wir bald klar: Der Büchermarkt in diesem Land ist lebendig. „Tsomet Sfarim“ hatte und hat zum Ziel, neben der Präsentation von Büchern anderer Verlage auch eine Erweiterung der vollen Bücherlager der beteiligten Verleger zu sein. 95 Filialen zählt „Tsomet Sfarim“ heute, 35 Prozent des israelischen Buchhandelsumsatzes gehören dieser Kette. Steimatzky ist der Name einer weiteren, vor 93 Jahren gegründeten, und mit 140 Filialen noch grösseren israelischen Buchkette. Es gibt Leute, die auf „Tsomet Sfarim“ als Buchgeschäft schwören und es gibt solche, die Steimatzky die Treue bewahren. Was aber im Gespräch mit israelischen Autorinnen und Autoren auffällt: Sie mögen die beide Ketten nur beschränkt, lieben eher die nicht wenigen unabhängigen Bücherläden, äussern sich aber vorsichtig kritisch über die beiden Grosshändler, denn sie fast alle sind von ihnen abhängig. Denn nur wessen Bücher sich in den Läden der beiden Ketten türmen, kann bei den Lesern wirklich ankommen.

Flagshipstore von „Tsomet Sfarim“ ist die Filiale im Dizengoff Center in Tel Aviv. Zum Geschäftsprinzip gehört aber auch die Präsenz auf dem Land, in Ortschaften, in denen man Buchgeschäfte ihrer Grösse nicht erwartet. Zum Beispiel in Ramat Ishay am Eingang der Jezreel Ebene im Norden des Landes. Oder eben der Laden in Shefayim an der Route 2. Beide Ortschaften sind Dörfer. Doch am Rand der beiden Gemeinden wurden in den letzten Jahren Shopping Malls errichtet, wie sie typisch für Israel sind. Angesichts der hohen Temperaturen lieben es Israeli, ihre Einkäufe in Shoppingcenters zu machen. Man verbindet die Einkäufe mit Restaurantbesuche, man trifft sich in diesen Malls, in denen es stets kühler ist als draussen. Und weil die Gemeinden bestimmen können, wann und wie lange die Läden auf ihrem Gebiet geöffnet sein dürfen, sind „Tsomet Sfarim“ Läden auf dem Land auch an Samstagen offen, an denen Läden in den Städten Israels bis zum Eindunkeln geschlossen sind.

Schlauchartiger, rechteckiger Raum, Bücherinseln

Shefayim zum Beispiel. Man geht von den Parkplätzen eine kurze Treppe hinauf und befindet sich am Eingang eines langgestreckten Ladens. Ein greller gelber Bodenbelag, Gelb und Blau sind die Farben des Hauses, Grün und Weiss jene des Konkurrenten Steimatzky. Hohe Büchergestelle bis zur Decke hinauf zu beiden Seiten des Ladens. Wo habe ich das in einer anderen allgemeinen Buchhandlung sonst schon gesehen: 70 Tablare mit Kinderbüchern, 46 Tablare mit Jugendbüchern, 30 Tablare mit Psychologiebüchern? Über den Präsentiertischen in der Raummitte viele bunte Fähnchen mit der hebräischen Formulierung „ma kore?“, was zweierlei bedeutet: was ist passiert und was liest du? Auffallend viele aus dem Englischen übersetzte Bücher, dazwischen aber auch Titel, die ich aus dem Angebot deutschsprachiger Buchhandlungen kenne. Aber auch Nonbooks gehören zum Angebot: Brettspiele, Geschenkpapiere, Kalender. Was auffällt, sind die Angebote nach dem System „Kaufe ein Buch und das zweite, das du kaufst, bekommst du zur Hälfte des Preises“. Ein Gesetz untersagt es aber, Bücher im Rahmen dieser Aktionen anzubieten, die jünger als 18 Monate alt sind. Handkehrum werden alle Bücher, die in den ersten 18 Monaten seit Erscheinen, nicht abgesetzt werden konnten, im Rahmen dieser Aktionen angeboten.

„Tsomet Sfarim“ heisst „Bücherkreuzung“ Sie ist eine Buchhandelskette, in der ein breiter Überblick über die israelische Bücherproduktion gewährt wird. Als ich israelischen Freunden berichte, dass ich diese Kette mehr mag als Steimatzky, kommen sie ins Schwärmen für die kleineren, für die unabhängigen Buchhandlungen im Lande. Jetzt habe ich eine Liste beisammen für den nächsten Besuch: „Migdalor“ an der Levontin Street in Tel Aviv, „Migdalor“ heisst Leuchtturm. Oder „Sipur Pashut“ im Stadtteil Neve Tsedek, was übersetzt „Eine einfache Erzählung“ heisst. „Sipur Pashut“ gilt in Tel Aviv als einer der besten Orte für Kunstbücher und englische Literatur. Das Unternehmen ist auch die Herausgeberin der hebräischen Ausgabe der renommierten englischen Literaturzeitschrift Granta. „Tola’at Sfarim“ oder „Bücherwurm“ am Rabinplatz hat ja schon seit langem einen Platz bei buchort.ch gefunden. Nicht unweit von dort an der Basel Street befindet sich die Buchhandlung “Sfarim be Basel“. Ach ja, den Buchhändler von „Sipur Pashut“ muss ich jetzt nochmals kontaktieren. Die fast zwei Kilogramm schwere Enzyklopädie der israelischen Literatur „The Heksherim Lexicon of Israeli Authors“ will ich mir bestellen. Wohl typisch, dass ich diesen wichtigen Band in den Läden von „Tsomet Sfarim“ nicht gesehen habe, sondern erst in der kleineren und spezialisierteren Buchhandlung?

Tzomet Sfarim
Mitcham Chotzoth
Shefayim, Israel
T: +972 524 207 308
www.booknet.co.il (nur Hebräisch)

Erfüllter Werbeslogan

Heinz Egger

Zuerst eine Enttäuschung. Den Laden in der Fabrikhalle an der Schnellstrasse zwischen Nethanya und Herzliya, den wir eigentlich aufsuchen wollten, gibt es nicht mehr. Von weitem ist ersichtlich, dass der Ort seit längerer Zeit verlassen wurde. Vor den Eingangstüren hängt eine grosse blaue Blache, auf der der Umzug in das nahe gelegene Einkaufszentrum angekündigt wird. Auf dem Dach zeigt die eine Leuchtreklame nur noch die Neonröhren, die andere wurde durch eine Zeile ergänzt und weist mit einem Pfeil in die Fahrtrichtung zum neuen Ort.

Wir schiessen – wohl der Erinnerung wegen – doch ein paar Fotos. Mir fällt ein Schild auf, das die Besucherinnen und Besucher bittet, keine Wertgegenstände im Auto zu lassen. War der Ort, gelegen auf dem Gelände eines Kibbutz für Diebstähle berüchtigt?

Wir finden das Einkaufszentrum rasch, es liegt nur einige Hundert Meter vom alten Ort entfernt. Es ist noch „früh” am Shabbat-Morgen, doch der Parkplatz ist bereits gut belegt. Während in den Städten und den religiös geprägten Dörfern alles ruht, ziehen die Einkaufszentren ausserhalb der Wohngebiete viele Leute an. Einkaufen, Bummeln, Essen, Sich-Unterhalten-Lassen sind wohl die Gründe für einen Besuch.

Die gelben Buchstaben von Zometh Sfarim, und das stilisierte Buch mit roten, blauen und grünen Seiten leuchten von weit her. Der Laden ist nicht zu übersehen. Er liegt in einer Reihe ähnlich grosser Läden mit Kleidern, Sportartikeln, Lampen und einem Restaurant mit nahöstlicher Küche.

Der Raum ist sehr hell, schlauchartig rechteckig mit einer Verengung durch einen einspringenden Teil hinten links. Die Breite bietet genügend Platz für zwei Reihen Bücherinseln. Die rechte zählt acht, die linke sechs. Den Wänden entlang laufen raumhohe Gestelle, die bis zu oberst voll sind. Alle Bücher zeigen ihren Rücken. Auf etwa zwei Metern Höhe verläuft eine silberne Stange. Über eine darin eingehängte Aluminiumleiter können die obersten Regalfächer, die wohl eher als Lager dienen, erreicht werden. Covers sieht man nur auf den Bücherinseln.

Auch nach vier Wochen Aufenthalt im Land, verwirren die Bücher, die alle den Rücken rechts liegen haben und die hebräischen Schriftzeichen. Die Orientierung auf den Bücherinseln fällt mir ziemlich schwer.

Die Kinderbuchabteilung

Die Gestelle allerdings sind auf Höhe der Stange gross angeschrieben. Ich erkenne bis auf wenige, was für Abteilungen angeboten werden. Über zehn Gestellen steht „Yeladim”, Kinder. Dort zieht es mich hin, denn ich möchte meine neu angelegte Sammlung an Kinderbüchern in hebräischer Sprache ergänzen. Ich suche die Bücher von David Grossman. Lange entziffere ich Titel und Autorennamen, scheitere aber. Ich gehe zur Kasse und frage – natürlich auf Ivrith – wo die Kinderbücher von David Grossman stehen. Eine junge Frau, die ganz schwarz gekleidet ist und einen auffälligen, goldenen Schmuck um den Hals trägt, zeigt mir die Bücher. Ich war bei meiner Suche nicht weit davon entfernt. Das Tablar ist mit einem gelben Streifen angeschrieben. Gleich neben Grossman lese ich noch den Namen von Meir Shalev. Ich wusste nicht, dass auch er Kinderbücher geschrieben hat. Ich nehme zwei von Shalevs Büchern und ergänze die Sammlung von Grossmans Büchern, so dass meine Sammlung insgesamt zehn umfasst. Da werde ich als Grossvater zum Geschichtenerzählen einiges vorzubereiten haben, aber ich freue mich darauf, den Enkeln auch eine andere Kultur vorstellen zu dürfen.

Ich spaziere im Laden den Gestellen entlang und lese deren Inhalt: vier Gestelle Jugend, vier Gestelle Kleinkinder, acht Gestelle Spiele. Dann folgen Psychologie, Gesundheit, drei Gestelle Küche, drei Gestelle Reiseführer, Geschichte, Wirtschaft. Vor dem Gestell „Shirah”, Lyrik, bleibe ich stehen. Ich ergreife ein Buch, schlage es auf und sehe, dass die Texte alle punktiert sind, also die Angaben zu den Vokalen enthalten. Spannend, das wird doch sonst nur in Kinderbüchern gemacht oder bei Wörtern, die nicht zum alltäglichen Wortschatz gehören, oder bei Fremdwörtern. Ich nehme ein zweites Buch und auch diese Texte sind punktiert. Ich bleibe an einem kleinen Bändchen hängen, dessen Autorin einfach Rachel heisst. Es handelt sich um die in Israel auch heute noch bekannte Lyrikerin Rachel Bluwstein (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Rachel_(Dichterin)). Da wir im Ivrith-Unterricht über diese Dichterin gelesen haben, wird das Büchlein mein erster Gedichtband in Ivrith. Lesen werde ich die Texte dank der Punktierung können. Ob ich aber ihre Worte je verstehen kann, ist eine ganz andere Frage. Ihr Porträt ziert übrigens die 20-Shekel-Note seit 2017.

Zehn Gestelle mit hebräischer Literatur, acht Gestelle mit englischer Literatur, ein Gestell mit Zeitschriften. Darin liegt auch die Zeitung Ha-Aretz, die bisweilen schwer zu finden ist.

Verkäuferin mit arabischen Wurzeln

Ich gehe zur Kasse und komme mit der jungen Frau, die mir die Bücher von Grossman gezeigt hat, ins Gespräch. Ihr Englisch ist nicht so gut, deshalb spricht sie Ivrith und auf meine Bitte hin tut sie es langsam. So verstehen wir uns.

Natürlich wollen wir auch den Leuten in diesem Laden mitteilen, wenn unser Text online geht. Da Zometh Sfarim eine Kette mit über 95 Filialen ist, sollte die Nachricht im richtigen Laden ankommen. So gibt uns denn die Verkäuferin ihre private E-Mail-Adresse. Ihr Name sagt es: Sie hat arabische Wurzeln. Jetzt verstehe ich auch ihren schönen Schmuck am Hals: Es ist ein Sufitänzer.

Mit sechs Büchern verlasse ich den Laden, was noch nie geschehen ist, auch dass sie alle in Ivrith geschrieben sind, ist ein Novum. Die gelbe Tragtasche trägt einen Werbespruch, der meinen Besuch im Laden auf den Punkt bringt: „Immer lohnt es sich an der Kreuzung anzuhalten. Ich hielt an, suchte, fand, las, …, war aufgeregt, dachte nach, wählte, …, kaufte, ging weiter.”