In guter Nachbarschaft
Michael Guggenheimer
ZKM. Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe. Ein Museum und Experimentierfeld, ein Mekka für Menschen, die sich für zeitgenössische Kunst und für den Einsatz moderner Medien in der Kunst interessieren. Vor dreissig Jahren gegründet, zehn Jahre später in einer ehemaligen denkmalgeschützten Waffen- und Munitionsfabrik eröffnet. Ein Ort extraordinärer Ausstellungen und Symposien zu den Auswirkungen der Mediatisierung, Digitalisierung und Globalisierung. Ein wuchtiger Bau mit zum Teil übergrossen Räumen, in denen insbesondere auch die Schnittstellen zwischen Kunst und Wissenschaft in Ausstellungen zu sehen sind. Das ZKM ist mit seinen wechselnden thematischen und monografischen Ausstellungen ein Ort von internationaler Ausstrahlung. Die am ZKM kuratierten Ausstellungen werden regelmäßig einem internationalen Publikum zugänglich gemacht: Im Jahr 2018 war das ZKM mit 20 Ausstellungen weltweit vertreten, darunter in Polen, Litauen, Lettland, Ungarn, den Philippinen, Indien, Südkorea und China. Stolz heisst es auf einem Panel in der grossen Eingangshalle: «Im aktuellen Ranking der weltweit grössten Datenbank ArtFacts.net erreicht das ZKM Platz 4 innerhalb der Museen weltweit. Damit hat das ZKM nicht nur die Spitzenposition unter den deutschen Museen inne, sondern darf sich auch zu den weltweit bedeutendsten Kunstinstitutionen zählen».
Gemeinsam mit der in Karlsruhe domizilierten Staatlichen Hochschule für Gestaltung (HfG) besitzt das ZKM eine Bibliothek, deren Bestände sich thematisch auf die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts sowie auf Medienkunst, Architektur, Design, Medientheorie, Film, Fotografie und elektroakustische Musik konzentrieren. Hat man schon Ausstellungen im ZKM besucht und begibt sich in die im selben Gebäudekomplex im ersten Stockwerk gelegene Bibliothek, so ist der erste Eindruck etwas ernüchternd. An einem Ort mit so gewichtigen Ausstellungen erwartet man eine ebenso spektakuläre Bibliothek. Anlässlich unseres Besuchs der Bibliothek sass eine nicht gerade auskunftsfreudige junge Dame am Eingang, die lieber weiter ungestört in ihrem Buch las und deren Auskunftskompetenz und -freude eher bescheiden war.
Zwei Räume der Länge des Gebäudes entlang, eine Trennwand zwischen dem ersten und dem zweiten. Links und rechts hohe Büchergestelle. Die Regale mit dem Kennbuchstaben B rechts vom Mittelgang mit den Künstlermonografien, links mit der Bezeichnung C die Ausstellungskataloge. Im zweiten Raum die Bücherregale mit den kunstwissenschaftlichen Publikationen, hinter ihnen die Bereiche Design und Architektur. Man muss sich die Bestände der Bibliothek etwas genauer anschauen, zwischen den Büchergestellen wandern und einzelne Bereiche näher anschauen, um die fehlende Ausstrahlung der hohen Räume gewissermassen zu vergessen und zu realisieren, dass hier ein breiter Bücherbestand auf Leser wartet. Mit SA für Seminarapparat ist jener Bereich angeschrieben, in dem Literatur für Seminarteilnehmer der Hochschule bereitgestellt wurde. Die ZKM Bibliothek ist kein Ort mit einem speziellen künstlerischen oder architektonischen Ambiente. Hier hat keine Bibliotheksarchitektin und kein Innenarchitekt aus den bestehenden Räumen Neues geschaffen. Muss auch nicht sein. Vielleicht sind es die zu hohen Erwartungen, die man bei einem Besuch angesichts der Werbebotschaften und der gesehenen Ausstellungen des Museums in der Bibliothek nicht haben sollte.
Dafür vermögen Teile der Bibliothek, manche Abteilungen und Bücherbestände zu faszinieren. Da versöhnt man sich mit der Gestaltung des Ortes, die nichts anderes ist als praktisch, stabil und solid. Die Bibliothek umfasst einen Bestand von – je nach Angabe – etwa 60.000 bis 70 000 Büchern und digitalen Datenträgern. Zusätzlich werden rund 120 Zeitschriften im Abonnement geführt. Der gesamte Bestand der Bibliothek ist offen und systematisch aufgestellt, um die Suche nach Literatur direkt am Regal zu ermöglichen. Wer sich in der Geografie der Bibliothek nicht auskennt, dem steht ein praktischer Plan zur Verfügung, der die schnelle Suche nach Sachgebieten erleichtert.
Bei gewissen Sachgebieten muss man bei der Suche eines Titels allerdings körperlich fit sein: So tief liegen die Bücher in den untersten Tablaren und so dicht beisammen sind die Metall- Büchergestelle, dass man sehr wendig sein muss, und nicht zu gross sein darf, will man die Bücher aus den unteren Tablaren hinaufholen. Da kann es vorkommen, dass man Benützer sieht, die bei der Suche nach einem Buch gekrümmt oder regelrecht langgestreckt auf dem Fussboden liegen und die Büchertitel zu erkennen versuchen.
Im hinteren Teil des ersten grossen Raums stehen vier lange Arbeitstische, vor diesen Tischen eine kleine Ausstellung von Buchskulpturen, der einzige Raumschmuck dieser Bibliothek. Gerhild Rother ist die Künstlerin, die aus Büchern Papierobjekte macht, die sie zu unterschiedlichen Skulpturen faltet.
Dafür sind die Sammelbereiche breit und manchmal auch überraschend: Die Architekturgeschichte ist in den Gestellen praktisch nach Epochen geordnet. Die Liste der Bautypen reicht vom Stichwort «Platzanlagen» über Klöster und Kathedralen bis zu Kindergarten und Wolkenkratzer. Überaus reich ist die ZKM-Bibliothek an Ausstellungskatalogen. Fast ohne Ende nach Ortschaften geordnet von Aachen über Amsterdam und Appenzell führt die Reise den Büchergestellen entlang nach Basel, Bedburg, Berlin dem ganzen Alphabet entlang nach Völkingen, , Waldenbuch und Zumikon. Überaus reich auch der Bestand an Künstlermonografien, angefangen bei Matthias Aan’t Heck über Bazile Manzoni und Burkhart Baserle und dem ersten «Bekannten» Julius Bissier bis Bill Viola, Anne Caroline Zwinscher und Eduard Zowortka. In eigenen Gestellen werden die Neuerwerbungen präsentiert: Wunderbare Entdeckungen im Bereich der aktuellen Kunstszenen. Beim weiteren Stöbern stosse ich auf Freunde wie den Typografen und Buchgestalter Jost Hochuli, den Ostschweizer Künstler Roman Signer und den Zeichner Felix Studinka aus Zürich. Game Design und Szenografie sind Themen, die Fenster zu neuen Bereichen öffnen. «Made in China. Designed in California», «Store Signs», «Branding Terror” und “Newspaper Design” sind Titel, die ich in die Hand nehme und die ich gerne lesen würde. Im Gegensatz zur zeitgenössischen Architektur, die nicht sehr reich bestückt ist, sind die Bereiche Museologie, Fotografie und Film sehr reich dotiert. Architekturfotografie, Industriefotografie, Portrait- und Akfotografe, Modefotografie und Fotojournalismus sind Bereiche, für die man gerne nochmals die Bibliothek aufsuchen würde.
ZKM Bibliothek
Lorenzstrasse 19
76135 Karlsruhe
T: 0049 721/8100-1717
zkm.de/de/sammlung-archive/bibliothek
Bitte mehr Licht!
Heinz Egger
Vor der Eingangstüre zur Bibliothek stehen Sofas. Sie sind schwarz wie die Nacht genau wie die Wände der Boden und die Decke. Auf einem Sofa schläft ein junger Mann, die roten Kappen seiner schwarz-weiss gewürfelten Socken leuchten als einzige Farbtupfer.
An der Garderobe vor dem Eingang zur Bibliothek hängen ein schwarzer Regenmantel und ein gestrickter Schal, auf die durchs Fenster die Sonne brennt. Zwei Stapel „Einkaufskörbe” aus transparentem Plastik stehen unter den vielen Kleiderbügeln, auf der Ablage steht eine Tasche, eine leere Pet-Flasche. Sind es vielleicht Gegenstände des Schläfers?
Genau so düster empfängt einen die Bibliothek. Nur bei der Theke am Fenster ist es hell. Da nur wenige der Leuchtstoffröhren brennen, verlieren sich die langen, dunklen Gestelle im Dämmerlicht des dunkel gestrichenen Raums. An der Informationstheke gleich nach der Türe sitzt eine junge Frau, die liest. Sie hört uns artig zu, und vernimmt, was wir machen. Das Licht macht sie erst an, als wir danach verlangen. Nun gut, wir sind zu Beginn des Besuchs die einzigen, die sich zwischen den Gestellen bewegen. Die 24 Arbeitsplätze an Tischen aus hellem Holz, die an zwei Orten vor der Fensterfront liegen, sind kurz nach 13 Uhr am Samstag verwaist.
Ich ziehe mich zwischen die Gestelle zurück und lande bei einem grossen Tisch mit drei Computerarbeitsplätzen. Die Rechner laufen, aber nur mit einem Studienausweis und entsprechenden Zugangsdaten kann damit gearbeitet werden. Unübersehbar auf dem Tisch steht ein Auszug aus dem Bibliotheksreglement. Es sind sieben Punkte. Der letzte davon zählt auf, wofür die Bibliothek nicht haften wird.
Die Decke liegt hoch über mir. Schlanke Betonstützen tragen sie. Die Bibliothek liegt im ersten Stock einer alten Fabrik. Sie wurde im ersten Weltkrieg als Munitionsfabrik gebaut und steht heute unter Denkmalschutz. Es ist der grösste historische Industriebau Baden-Würtembergs.
Auf einem der Arbeitsplätze liegen drei Bücher. Es sind drei Schriften von Michel Foucault. In der Bibliothek wird alles gesammelt, was mit Kunst zusammenhängt. Also auch philosophische Betrachtungen. Die drei Bücher blieben liegen, weil das Benutzerreglement dies so verlangt, denn sie werden durch die Bibliotheksangestellten wieder in die Regale zurückgesteckt, damit die Ordnung erhalten bleibt. Der gesamte Bestand von mehr als 60 000 Medien und 120 laufenden Zeitschriften, so steht es auf der Website der Bibliothek des ZKM, ist offen zugänglich und systematisch aufgestellt. Da ist eine solche Regelung bestimmt sinnvoll, damit man bei der Recherche in den Gestellen auch findet, was das Bibliothekssystem ausgibt. Der Katalog ist von zwei anderen Stationen in den Tiefen der Anlage aus und natürlich online einsehbar. Die Suchseite des Katalogs enthält auch Links zu den sogenannten Semesterapparaten, also Büchern, die für die Semesterarbeit von den Dozierenden vorgesehen sind. Selbstverständlich stehen diese Apparate auch zusammengestellt in einem eigenen Gestell und sind so für die Studierenden schnell erreichbar.
Die Gestelle sind mannshoch und haben sechs bis sieben Tablare. Platz für neue Bücher ist nicht mehr viel vorhanden. An den Stirnseiten weisen A3-grosse Plakate auf den Inhalt hin. Eine Buchstabenfolge gliedert die Bereiche der Bibliothek. P steht beispielsweise für Philosophie, Pm für Philosophie-Monografien. Kg steht für Kunstgeschichte. Diese ist mit Kga weiter nach Ländern unterteilt und umfasst die Nummern 2000 bis 9999. Unter Kgk ab Nummer 4000 findet sich der Surrealismus. Ab der Nummer 4500 gibt es einige Bücher über Dada. Wer häufig in dieser Bibliothek verkehrt muss und wird sich sicher schnell an die verschiedenen Buchstabenfolgen gewöhnen. Als Einstiegshilfe liegt ein Plan der Anlage auf Papier auf.
Im Katalogsystem suche ich nach Künstlerbuch, Buchgestaltung und Buchbinden, um herauszufinden, in welchen Gestellen solche Schriften zu finden sind. Sie befinden sich im Bereich D wie Design. Ich suche die Gestelle und scanne mit den Augen, wo nun „meine” Bücher stehen. Bevor ich sie entdecke, bleibe ich an den „Schönsten Schweizer Büchern” hängen. Eine ganze Reihe der Publikationen, in der die schönsten Schweizer Bücher vorgestellt werden, steht auf Augenhöhe. Allerdings nur bis zum Jahr 2016. Was ich suche, finde ich ganz unten im Gestell. Um etwas im Angebot stöbern zu können, setze ich mich auf den Boden. Länger blättere ich in den beiden Büchern von Vasco Kintzel. Eines handelt vom Buchbinden und das andere vom Herstellen von Kartonage-Artikeln. Beide Bücher sind übrigens bei „Books on Demand” erschienen.
Künstlerbücher, also Bücher, bei denen nicht nur der Inhalt künstlerischer Natur ist, sondern auch die Bindung, finden sich natürlich hier nicht. Ob es aber trotzdem industriell gefertigte, ausgefallene Bücher in den Gestellen hat? Am ehesten rechne ich mit solchen bei den Designern und Grafikern. Und wirklich, da entdecke ich ein Buch, aus dessen Rücken ein Ohr ragt, zahlreiche japanisch gebundene Bücher, teilweise mit Gewebeverstärkung an den Buchrückenecken, viele Schuber und Bände mit bedrucktem Schnitt. Häufig sind auch offene Buchrücken, teilweise mit zweifarbigem Garn genäht, auf einigen sind die Marken zur richtigen Reihenfolge der Lagen sichtbar.
Selbstverständlich sammelt das ZKM auch Ausstellungskataloge. Sechs Gestelle belegen sie und enthalten Kataloge aus der ganzen Welt. Gleich beim Ausgang liegt der Katalog zur Ausstellung „Licht und Leinwand” der Kunsthalle Karlsruhe auf: Die Ausstellung stellt die Entwicklung von Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert dar und zeigt, wie die beiden Kunstrichtungen sich gegenseitig beeinflusst haben.
Als ich die Bibliothek verlasse, sind die beiden roten Punkte im Dunkel des Raums nicht mehr da.
PS: Die Ausstellung „Licht und Leinwand” ist seit dem 2. Juni 2019 geschlossen (Rückblick).