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La Méridienne, La Chaux-de-Fonds

Literatur und Musik

Michael Guggenheimer

Texte en français, traduit par Jean Perrenoud

«Faire la méridienne» heisse auf Französisch nichts anderes als eine Mittagspause, eine Siesta machen. So erklärt Chantal Nicolet Schori den Namen ihrer Buchhandlung in La Chaux-de-Fonds. Kommt man kurz nach 12 Uhr bei der Buchhandlung im stattlichen Gebäude an der Ecke der Rue du Marché / Rue Paul-Zimmermann an, steht man vor geschlossener Tür. Hier gilt die Mittagspause. Das Warten in einem Café in der Nähe (ich empfehle die Confiserie Minerva!) oder auch ein Spaziergang durch den Stadtkern der Uhrenmetropole, die mit ihren rechtwinklig angelegten Strassenzügen und ihrer wertvollen Bausubstanz seit 2009 zum Unesco-Welterbe gehört, lohnt sich. Um 13.30 Uhr geht der Laden wieder auf. Und wer dann den Buchladen betritt, der bleibt, bleibt lange. Denn zu sehen und zu lesen gibt es hier viel. Und es gibt auch Wunderbares zu hören. Der Laden mit seinen zwei oder drei Räumen – es ist angesichts der verschiedenen Nischen von der Kinderecke bis zur Bürokanzel nicht leicht zu entscheiden, wie viele Räume er hat, ist auch ein Klangort.

Chantal Nicole Schori und Gabriel Meuwly

Gabriel Meuwly, Freunde nennen ihn einfach Gab, teilt sich den Laden mit Buchhändlerin Chantal Nicolet Schori. «Gab Son & HiFi – disquaire» ist ein flächenmässig nicht grosser CD- und LP-Laden oder Shop-in-Shop, der einzig wirklich dicht und reichbestückte seiner Art in La Chaux-de-Fonds.

La Chaux-de-Fonds liegt auf rund 1000 m über Meer und ist mit seinen knapp 40 000 Einwohnern eine der höchstgelegenen grösseren Städte Europas. Zwei Comics Buchhandlungen gibt es in La Chaux-de-Fonds. Die Librairie Impressions ein absolutes Must für alle Freunde des Genres. Klar, es klingt besser, wenn man von Bandes Dessinés , von BD, spricht, wo doch die französische Tradition dieser gezeichneten Geschichten reicher und literarischer ist als diejenige im deutschsprachigen Bereich. Dann ist noch eine religiöse Buchhandlung da und eine Filiale der Buchhandelskette Payot. La Méridienne aber ist die literarische Schatzkammer, die gewiss – das darf man sagen – interessanteste Buchhandlung im ganzen Kanton Neuchâtel. So gut bestückt die Auswahl, dass Kunden sogar von der Kantonshauptstadt hinauf nach «La Chaux», so nennt man hier liebevoll die Stadt, fahren, um hier ihre Bücher zu kaufen.

La Méridienne ist ein sehr literarischer Ort. Und gleichzeitig ein äusserst gemütlicher. Ein Sofa aus Rattan inmitten der Buchhandlung, drei Korpusse oben und auf allen vier Seiten dicht beladen mit Büchern, Büchergestelle, die von der Bezeichnung Anthropologie über Essais littéraires und Philosophie bis zu Science reichen, nicht zu vergessen das Gestell Suisse mit seinen vielen Büchern von Schweizer Autorinnen und Autoren, unter ihnen auch zahlreiche Übersetzungen von Deutschschweizer Titeln. Als Besucher aus der deutschsprachigen Schweiz hat man wieder die Namen der Westschweizer Autorinnen und Autoren vor Augen: Anne Cuneo, Claude Darbelley, Catherine Colomb, Joel Dicker, Michel Layaz, Gilbert Musy, Noèlle Revaz. So viele vertraute Namen, so viele noch nicht gelesene Bücher. Man blickt sich um und entdeckt viel übersetzte Literatur aus anderen Ländern: Marion Poschmann, A.B. Yehoshua, Francesca Melandri, Olga Tokarczuk, Bernhard Schlink, Amitava Kumar. Und als Überraschung Walter Mehriings «Les Müller. Une dynastie allemande», eine Übersetzung, die man hier gar nicht erwartet hätte. Hier sucht die Buchhändlerin Bücher aus mit sicherem Geschmack für gute Belletristik für Theatertexte sowie Filmbücher und mit einem guten Gespür für gesellschaftlich wichtige Fragen.

Blick in die Buchhandlung

Vor 23 Jahren haben drei Leute die unabhängige Buchhandlung gegründet, geblieben ist Chantal Nicolet Schori, die von zwei Mitarbeiterinnen unterstützt wird. Ein dreiteiliger Bogen auf Deckenhöhe mitten im Raum scheint die Sachgebiete der Buchhandlung fast unsichtbar zu trennen. Man betritt den Ort, beginnt bei der Belletristik und bewegt sich beim Betrachten der Buchhüllen und beim Durchblättern der Bücher unmerklich hin zu den Sachbüchern, entdeckt nicht wenig Soziologie und Umwelt. Etwas erhöht und räumlich getrennt wurde eine Kinderecke eingerichtet, eine Art Höhle mit Kinderbüchern, wo bei unserem Besuch eine Grossmutter und ein Grossvater Lektüren für ihre Enkelkinder suchten. Man wird im Laden begleitet von Musik, die stets im Hintergrund bleibt und nie zu aufdringlicher Kaufhaus- oder Cafémusik wird, denn Gab, der in einem leicht erhöhten Teil des Ladens hinter einer Theke und beschützt von unendlich vielen CD’s thront und den Überblick über einen Teil des Ladens hat, legt Schallplatte nach Schallplatte auf, wechselt die CD’s. Der ehemalige Schlagzeuger, der früher einen Musikalienhandel in St. Imier besass, ist ein grosser Musikkenner, der weiss, dass die Leserinnen und Leser von La Méridienne es schätzen, wenn die Musik sie beim Stöbern und Lesen nicht stört und doch neugierig nach den jeweiligen Musiktiteln macht. Zwischendurch setzt er sich die Kopfhörer auf und hört sich in ein anders Musikstück ein. Von Klassik über Jazz und bis zu Weltmusik kennt er sich der hagere Mann aus, der über Luciano Berio ebenso mitreden kann wie über Rolf Liebermann oder über Opern, der Soufimusik ebenso wie Klezmer in seinen CD Gestellen führt. Dass Musik in La Chaux einen besonderen Stellenwert besitzt, weiss, wer das Buch «La Salle de la Musique  La Chaux-de-Fonds – Un lieu et une accoustique d’exception» auf einer der vier Treppenstufen sieht, die zum Musikteil der Méridienne führt. «Weitab von den Zentren des Musiklebens», schrieb die Neue Zürcher Zeitung, «gibt es einen Konzertsaal, der seinesgleichen sucht. Tatsächlich treten in der für ihre Akustik gerühmten Salle de musique von La Chaux-de-Fonds die grossen Interpreten unserer Zeit auf.»

La Chaux, die Uhrenkapitale der Schweiz mit ihrem berühmten Internationalen Uhrenmuseum, liegt einerseits für viele Schweizer – psychologisch zumindest – unglaublich weit weg und an der Peripherie. Vergessen wird dabei die kulturelle Vielfalt der Stadt im Jura mit ihrem reichen Musikleben, mit ihrer Hochschule für Gestaltung, mit ihrer grossen Bibliothek und dem berühmten Club 44, jenem Ort der intellektuellen Auseinandersetzung, von einem Patron der Uhrenbranche gegründet, an dem herausragende Persönlichkeiten regelmässig Vorträge halten oder zu Debatten anreisen. Jean-Paul Sartre, François Mitterrand, Ella Maillart, Nicolas Bouvier, Jeanne Hersch, François Truffaut, Jacques Attali, Mario Botta gehören zu den unvegesslichen Rednern des Clubs, in dem jede Woche Veranstaltungen stattfinden. Die Debatten werden auf Band aufgenommen und können noch Jahre später in der Bibliothèque de la ville abgehört werden. Eine Ehre ist es, beim Club zu einer Rede eingeladen zu werden. «Le Club 44 Un miracle culturel» heisst es. Dass der Bücherstand jeweils von der Buchhandlung La Méridienne geführt wird, erstaunt nicht, wenn man sich in la Chaux umhört.

La Méridienne, livres et disques, Sàrl
6, Rue du Marché
2300 La Chaux-de-Fonds
T: 032 968 01 36
www.librairielameridienne.ch

Entschleunigung

Heinz Egger

Schon viele Strecken sind wir für buchort.ch gefahren. Und gerade die Fahrt nach La Chaud-de-Fonds ist eine, die wunderbar auch auf den Besuch vorbereitet. Von Biel an steigt die Bahn höher und höher. Die Welt wird eine andere, ländliche, ruhige. Wald über sanften Hügeln, Wiesen, kleine Gewässer. Der Frühling kündet sich an: Auf Wiesen, am Waldrand und in den Gärten blühen die goldgelb leuchtenden Osterglocken, die dort überall wild spriessen. Jonquilles werden sie genannt.

Aber es gibt an schattigen Stellen auch noch Schneefelder. Selbst in der Stadt La Chaux-de-Fonds liegen letzte Schneehaufen. Genau so wie die Fahrt von Biel hinauf ins Hochtal entschleunigt, so ist es in der Stadt ruhig. Der Verkehr ist geringer, auch wenn die mächtige, vielspurige Hauptstrasse Verhältnisse wie in Paris ermöglichte.

Wir kehren zuerst zu heisser Schokolade ein. Das Kaffeehaus scheint aus der Zeit gefallen. Und auch hier ist es ruhig, obwohl wir nicht alleine in dem altmodischen Raum sitzen.

La Méridienne von aussen

Zur Buchhandlung „La Méridienne” ist es von da aus nicht weit. Sie liegt in einem Haus der alten Stadt. Seit gut 23 Jahren hat sie sich dort schon behauptet. Die Schaufenster zeigen es an, nicht nur Bücher sind im Angebot, sondern quasi als Shop im Shop ebenfalls seit den Anfängen bietet Gabson&Hifi Schallplatten und CDs an. So erklingt denn auch beim Betreten des Ladens sanfte klassische Musik. Wir finden uns in einer weiteren Oase der Ruhe.

Das sei durchaus nicht immer so, sagt dazu Inhaberin Chantal Nicolet Schori. Und wir bekommen im Laufe unseres Besuches tatsächlich auch noch eine Kostprobe davon.

Blick auf die drei Bögen in der Buchhandlung

Der Laden ist ziemlich eng, ja kleinräumig. Beim Eingang rechts findet sich eine Nische mit ausgesuchten Ansichts- und Kunstkarten, ein Gestell mit (litterarisch-künstlerischen) Magazinen. Danach in einer erhöhten Nische, die über ein vierstufiges, steiles, schmales, bewegliches Treppchen erreichbar ist, ein Miniaturarbeitsplatz. Quer durch den Hauptraum läuft an der Decke eine Holzkonstruktion, die drei „Torbögen” mit runden Säulen bildet. In den Bögen sind Lampen integriert. Jedes Plätzchen in den Gestellen belegen Bücher. Die Tablare der rötlich-braunen Gestelle sind klar beschriftet, man findet sich mühelos zurecht: Histoire, Religions, Spiritualité, Philosophie, Littérature vagabonde, Essais littéraires, Polars, Géographie. Auch hier scheint die Zeit etwas stehen geblieben zu sein – aber nur äusserlich. Die Bücherauswahl, getroffen von der Inhaberin selbst, ist top-aktuell und folgt ein wenig dem Spruch an der Wand von André Suarès: Il est possible que le livre soit le dernier refuge de l’homme libre. Es ist möglich, dass das Buch das letzte Refugium des freien Menschen ist. Laut dem Blatt an der Wand hat Suarès diesen Satz 1920 geschrieben. Da ist sicher mehr als ein Körnchen Wahrheit drin, wenn man sieht, wie sehr wir alle durch die Nutzung des Internets gläsern und überwachbar geworden sind und wie jeder in seine eigene Filterblase eingeschlossen ist.

Der Anblick französischer Buchcover kann sehr beruhigend sein. Ich denke da an die seit ewigen Zeiten gleich schlicht gestaltete Reihe von Gallimard, die vielen weissen Buchrücken der Paperbacks oder die kleine Serie von Büchern des jungen Verlags „la gûepine”: vollständig weisser Umschlag, in Schwarz gedruckt Autor und Logobild, blau gedruckter Titel und Verlagsname. Zudem sind gerade diese Bücher „à l’ancienne” produziert. Das heisst, dass nur zwei Seiten des Buchblocks beschnitten sind. Der Leser muss den oberen Falz beim Lesen selbst aufschneiden. Ja, es gebe wieder solche Bücher, sagt Chantal Nicolet Schori, und weist auf einen weiteren Verlag hin, der solche anbietet: Fata Morgana. Als Beispiel liegt das Buch von Pierre Bergounioux „Le corps de la lettre“ auf, dessen Illustration der Buchkünstler Jacquie Barral (www.jacquiebarral.com) gezeichnet hat. Ein wunderschönes Buch!

Kinderbuch-Abteilung

Durch einen Türrahmen ohne Türe gelange ich vom Hauptraum aus in einen kleinen Gang. Auf der rechten Seite bedeckt ein grosser Spiegel den Gangabschluss und verdoppelt so quasi den Raum. Nach links führt ein weiterer Durchgang ohne Türe zurück in den Hauptraum. Geradeaus liegt eine mit Teppich belegte, kurze Treppe. An deren Ende erweitert sich der Raum. Dort führen zwei heute blinde Türen in den Bereich der Musik. In diesem engen Nebenraum sind die Kinder- und Jugendbücher eingereiht, aufgestellt, hingelegt. Es sind viele. Alles unbekannte Titel. Ich setze mich auf die Treppe und schaue mich um. Neben mir in einer hellen hölzernen Kiste stehen viele Bände einer Serie, die im Verlag Calligram erschienen ist. Ihr Titel lautet „Ainsi va la vie”  – so läuft das Leben. Schon 119 Bändchen sind in der 1992 gestarteten Reihe erschienen, die sich an 6- bis 12-Jährige richtet und Themen des täglichen Lebens in einer Comic-Geschichte erklärt. Alles dreht sich um Max und Lilli, aber auch um deren Freunde, die aus verschiedenen Familienverhältnissen stammen, oft auch anderer Hautfarbe oder Nationalität sind. Eine spannende, humorvoll gestaltete Serie. – An der Säule neben der Kasse ist mit Klebbändern ein leicht beschädigtes Plakätchen befestigt. Es „wirbt” für ein Büchlein aus der Serie mit dem Titel „Blocher n’aime pas les amis de Max et Lili”. Dieses Büchlein hätte ich gern erstanden. Aber es bestehe nicht, sagt Chantal Nicolet Schori, ich dürfe es aber gerne schreiben…

Ich frage die Inhaberin nach der Bedeutung des Namens der Buchhandlung. Gern erklärt sie – und daheim finde ich diese Ausführungen auch noch auf der sehr einfach gehaltenen Website: Das Wort „méridienne” stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet „l’heure de midi”, an der man doch gern auch ein Nickerchen macht – faire la méridienne. Und schliesslich bezeichnet es auch das Möbel, auf das man sich dazu hinlegen kann. – Mein erster Eindruck hat mich nicht getäuscht. Und ja, es wäre ganz schön, sich hier über den Mittag, oder noch besser während einer ganzen Nacht einschliessen zu lassen, um ohne jede Störung im sorgfältig zusammengestellten Sortiment zu stöbern, zu lesen, zu geniessen.

Texte en français, traduit par Jean Perrenoud