Nicht ohne Buchhandlung
Michael Guggenheimer
„Ich war so gerne in Lenzburg“ schreibt die deutsche Autorin Ursula Krechel in einem Text über ihre Zeit als Writer in Residence im Aargauer Literaturhaus. Autorin Felicitas Hoppe charakterisiert nach einem dreimonatigen Aufenthalt in Lenzburg das Haus so: „Lenzburg ist so ein Ort des Lebens: Ein Literaturhaus voller lebender Dichter, lebendige Schüler, lebendige Lehrer, mit denen man essen und trinken kann, die man sprechen und anfassen darf“. Und Autor Stephan Thome lobt Lenzburg so: „Das Schöne an der Residenz in Lenzburg ist: Ich kann mich ungestört in die Arbeit vertiefen. Außer einem Abend im Literaturhaus und einem Auftritt bei ‚Zürich liest’ gibt es keine Ablenkung“. Die beiden Schriftstellerinnen und der Schriftsteller waren Gäste des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg, bewohnten das gemütliche Gästehaus neben dem Haupthaus, wo sie ungestört schreiben konnten. Müllerhaus heisst das Gebäude, auf der Homepage heisst es auch noch „Ein Ort fürs Wort“. Drei Mal pro Jahr hat eine Autorin oder ein Autor aus dem Ausland die Möglichkeit das Gästehaus als Schreib- und Wohnort zu benutzen.
Der „Ort fürs Wort“ ist auch ein Ort, an dem Literaturfreunde Schriftstellerinnen und Schriftstellern zuhören können, wo Buchpremieren, Lesungen, Workshops und Diskussionsrunden stattfinden. Bloss neunzehn Minuten dauert die Fahrt mit der Bahn von Zürich nach Lenzburg, knappe zehn Gehminuten sind es vom Bahnhof zum Literaturhaus. Und weil es kaum je Überschneidungen mit dem Programm des Zürcher Literaturhauses gibt, lohnt sich die Reise in die Ortschaft, die nur in den Köpfen so vieler weit weg von Zürich ist. Me’ir Shalev, Leena Lehtolainen, A.L. Kennedy, Joshua Cohen, Eshkol Nevo, Arno Geiger, Raoul Schrott und Péter Nádas gehören zu den renommierten ausländischen Autoren, die in den letzten Monaten in Lenzburg aufgetreten sind. Melinda Nadj Abonji, Arno Camenisch, Franz Hohler, Silvio Blatter, Alain Claude Sulzer und Peter Stamm hat man in dieser Saison auch an den anderen Literaturhäusern der Schweiz erleben können. Das tut der Qualität des Programms keinen Abbruch.
Die Kleinheit des Vortragsraums, die guten Apéros nach den Lesungen im Gartensaal schaffen hier die Möglichkeit echter Begegnungen mit den Autoren, wie es sie weder das grosse Kaufleuten noch das neue Kulturhaus Kosmos in Zürich ermöglichen. Und immer gehört zu den Events im Literaturhaus Lenzburg auch der Bücherstand. Lange und weit über sein Pensionsalter hinaus war es Buchhändler Michael Brücker, der den Bücherstand im Literaturhaus betreute, stets hinter einem kleinen Tisch sitzend. Für regelmässige Besucher gehörte er fest zum Inventar des Hauses. Seine Buchhandlung, die den Namen von Gründerin Emilie C. Otz trug, befand sich in derselben Strasse wie das Literaturhaus, in kaum zwei Minuten Gehdistanz.
Als Kathrin Steinmann, studierte Politikwissenschaftlerin, vernahm, dass Buchhändler Brücker ans Aufhören dachte, entschloss sie sich, sein Geschäft zu übernehmen. Bereits zwei Jahre zuvor hatte die Lenzburger Buchhandlung im Rathaus geschlossen, Lenzburg mit seinem Literaturhaus wäre ohne eine einzige Buchhandlung geblieben. Die Lenzburger Quereinsteigerin und passionierte Leserin, die an der ETH eine Assistenzstelle hatte, gab die sichere Staatsstelle auf, bildete sich im Branchenwissen Buchhandel beim Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverband weiter. Der Aargauer Zeitung sagte sie in einem Interview: «Ich glaube an die Zukunft des lokalen Buchhandels und des gedruckten Buches». Glück hatte die Neu-Buchhändlerin, weil sie ein Ladenlokal in der Lenzburger Altstadt übernehmen konnte, zentraler gelegen als die Buchhandlung Otz.
Die Verbindung zum Literaturhaus ist geblieben: Draussen vor dem Laden stehen auf einer Tafel die Namen der kommenden Gäste des Literaturhauses, ihre Bücher sind im Geschäft zu haben. Die junge Buchhändlerin steht vor und nach den Lesungen hinter dem Büchertisch. Was gleich geblieben ist: Wer an einer Veranstaltung des Aargauer Literaturhauses teilnehmen will, der meldet sich bei der Buchhandlung an, elektronisch oder telefonisch, manche kommen auch persönlich vorbei und tragen sich in die Gästeliste ein. Gleich geblieben ist auch der Name der Buchhandlung. Weil Generationen von Lesern in Lenzburg der Name Buchhandlung Otz vertraut sei, hat Kathrin Steinmann den Namen des alten Ladens, wenn auch leicht verändert, übernommen.
Beim Einrichten ihres im August 2017 eröffneten Geschäfts schaute sich Kathrin Steinmann um und wurde in Rapperswil beim „Spiel und Läselade“ fündig. Hier fand sie jenes Mobiliar, das sie bei einer Firma in Lachen (SZ) bestellen konnte. Die Büchergestelle seien „ab Stange“, was der Ambiance keinen Abbruch tut. Nur eine Woche stand ihr zur Verfügung, um ihren Laden einzurichten und zu eröffnen. Nebenan befindet sich ein Buchantiquariat, mit dem gute Beziehungen bestünden, manche Kunden, die ein vergriffenes Buch suchen, weist Buchhändlerin Steinmann auf das benachbarte Antiquariat hin. In derselben Strasse ist die örtliche Bibliothek untergebracht und zum Literaturhaus ist es auch nicht weit.
Zwei Räume weist die Buchhandlung auf, einen vorderen und einen hinteren. An den tragenden Säulen des vergleichsweise niedrigen Vorderraums sind zum Zeitpunkt unseres Besuchs Gedichte der Lenzburger Mundartautorin Sophie Haemmerli-Marti angebracht. Ein grauer Steinboden, drei bequeme Sessel, ein Clubtisch, eine Kaffee-Teemaschine: Hier kann man es sich mit Büchern gemütlich einrichten. Im ersten Raum die Kinderbücher nach Altersgruppen sortiert, gleich beim Eingang die Neuheiten, den Schweizer Autoren wird gut Platz eingeräumt. Wer sich für Lokales interessiert, kommt auf seine Rechnung. Im hinteren Raum ein Tisch und zwei Stühle, hier gibt es nicht nur Bücher, klassische Brettspiele und Spiele für ambitionierte Spieler finden sich hier ebenso wie Reisebücher und Bücher zu den Themenbereichen Gesellschaft und Politik, Ratgeber, Natur und Garten. Eine schöne Auswahl an Kunstkarten und Moleskines erinnert daran, dass in diesem Raum früher eine Papeterie untergebracht war. Und wer bei den Karten etwas genauer hinschaut, entdeckt Kunstkarten von Sandra Bellini, jener Buchhändlerin und Künstlerin aus Stäfa, auch sie eine Quereinsteigerin, deren Buchhandlung vor kurzem als Buchhandlung des Jahres 2018 nominiert wurde.
Buchhandlung Otz GmbH
Kirchgasse 23
5600 Lenzburg
T: 062 892 06 80
www.buchhandlung-otz.ch
Modern und einladend
Heinz Egger
Die Buchhandlung Otz ist die einzige im Ort Lenzburg. Lange war sie in der Nähe des Literaturhauses daheim, seit Kathrin Steinmann das Geschäft als Quereinsteigerin übernommen hat, steht sie im Zentrum der Stadt, an der Kirchgasse 23.
Für Kathrin Steinmann, die Politologie studiert hat und in der Forschung an der ETH Zürich tätig war, war es undenkbar, dass Lenzburg ohne Buchhandlung sein könne. Daher hat sie den Schritt gewagt und ist als Geschäftsführerin eingestiegen. Den Namen der wohlbekannten Buchhandlung, die 1951 gegründet wurde, hat sie leicht gekürzt. Die Vornamen der Gründerin Emilie C. sind verschwunden. Sie führt die Buchhandlung mit vier weiteren Frauen, die zum Teil mit ganz kleinen Arbeitspensen beteiligt sind. Die neue Lage schätzt sie sehr. Es kommen mehr Leute vorbei, es gibt Laufkundschaft. Und sie stelle fest, dass sich ihr Publikum dadurch langsam verjünge. Die Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus ist geblieben und eine willkommene Stütze.
Von weit her sichtbar kündet eine „Bücherfahne“ den Ort der Buchhandlung an. Vor der Ladentür steht ein Steller, der die nächsten Veranstaltungen im Literaturhaus aufführt. Im Literaturhaus habe ich denn Kathrin Steinmann zum ersten Mal getroffen.
Eine Rückblende: Das Literaturhaus Lenzburg ist für seine Reihe von Lesungen mit namhaften Autoren bekannt. Ende März war Eshkol Nevo, einer der grossen heutigen israelischen Autoren, angesagt. Das Müllerhaus bietet ein elegantes Ambiente für Lesungen. Im Saal sind die Wände mit Stofftapeten bezogen, in der Ecke steht ein weisser Kachelofen, von den Wänden mit den Fenstern schauen ernst Herr und Frau Müller herab. Einige Stuhlreihen stehen für die Besucherinnen und Besucher bereit. Auf einigen Stühlen liegt ein Zettel mit einem Namen, einige andere sind mit einer Jacke oder einer Tasche als besetzt markiert. Insgesamt empfängt aber eine recht kleine Gruppe von Leuten den gebräunten, freundlich lächelnden Autor. Manfred Papst moderiert die Veranstaltung. Eshkol Nevo ist auf Lesereise mit seinem neuen Roman „Über uns“. Gewandt gibt er Auskunft zu allen Fragen, weicht nie aus. Er redet gern Klartext, auch zu politischen Themen. Das Buch besteht aus drei Teilen. Es sind drei Geschosse eines Hauses und die Teile sind an die Idee von Freuds Aufteilung der Psyche in Es, Ich und Über-Ich angelehnt. Spannend sind nicht nur die Geschichten auf jeder Etage, sondern auch die Art, wie sie geschrieben sind. Der erste Teil ist wie eine gewöhnliche Geschichte mit Reden und Gegenreden, Gedankengängen und Beschreibungen gestaltet. Der zweite Teil ist ein langer Brief, der dritte eine Aufnahme auf einen Telefonanrufbeantworter. Zwei Fragen beschäftigen Nevo: Wem erzählen wir unsere Geheimnisse und wer vergibt uns in einer säkularen Welt? – Das Buch hat mich gepackt. Ich kaufe es am Bücherstand, den Kathrin Steinmann von der Buchhandlung Otz führt. Natürlich lasse ich es mir nicht entgehen, das Buch signieren zu lassen. Eshkol Nevo wünscht mir darin „guten Aufstieg“.
Am Tag darauf besuche ich den Laden. Er befindet sich in der Altstadt. Zwei Stufen hinunter geht es zur Ladentür. Auf der Theke ist bereits die nächste Veranstaltung präsent. Ein kleiner Ständer mit einer Tafel zeigt das Datum und den Ort. Daneben glänzt das Buch der nächsten Lesung im Scheinwerferlicht: Daniel Goetsch „Fünfers Schatten“. Die Buchhandlung nimmt auch die Reservationen für die Veranstaltungen entgegen.
Die Räumlichkeiten wurden vor der Eröffnung renoviert. Wände und Decke sind weiss. Es ist hell. Das gibt trotz den anthrazitfarbenen Gestellen und dem dunklen Plattenboden Weite. Drei bequeme, helle Fauteuils mit roten Kissen darauf und ein roter Salontisch im vorderen Raum laden zum Verweilen ein. Die Atmosphäre ist gemütlich.
Der zweite, hintere Raum ist zweigeteilt. Ganz hinten am Fenster, erreichbar durch eine rote Schwingtüre, ist Kathrin Steinmanns Büro. Davor gibt es einen Tisch mit zwei roten Stühlen und einen weiteren Fauteuil mit Beistelltisch. Die Einrichtung ist gediegen und zeigt den Anspruch der Buchhandlung: modern, einladend, breites Angebot.
Der hintere Raum beherbergt die Sachbücher, beispielsweise Reiseführer, Wanderführer, Landkarten der Landestopografie und aus dem Verlag Euromap, Bücher zum handwerklichen Hobby, zum Spracherwerb und als Spezialität eine grosse Anzahl an Spielen. Die sehr attraktiven aus Holz und Karton erstellten Spiele stammen aus der Werkstatt der Stiftung Brändi in Luzern (www.braendi.ch), wo Leute mit Einschränkungen eine Arbeit finden. So müsste also die im vorausgehenden Abschnitt erwähnten Ansprüche der Buchhandlung durch sozial engagiert ergänzt werden.
Auch Hörbücher und Reader sind im vorderen Raum verfügbar. Kathrin Steinmann sagt, es sei ein Versuch, der seit einem Monat laufe. Die Nachfrage im Weihnachtsgeschäft habe sie veranlasst, diesen Bereich doch einzuführen.
Natürlich gibt es im Laden und auf der Website Buchempfehlungen von den Buchhändlerinnen. Schön ist, dass auf der Website bei den Jugendbüchern, die aus dem englischsprachigen Raum stammen, auch die englische Fassung im Bild erscheint. – Kathrin Steinmann führt fremdsprachige Bücher, es sei zwar keine Stütze, aber die Nachfrage bestehe, besonders von Zuzügern in der Stadt.
Nachdem die NZZ am Sonntag vom 6. Mai 2018 wieder einmal den Niedergang des Buchhandels beschworen und statistisch belegt hat, stimmt mich der Besuch in der Buchhanldung Otz doch zuversichtlich!