Die Welt zuhause im Dorf
Michael Guggenheimer
Da muss jemand blind sein. Oder es fehlt ihm der Sinn für das Besondere. Im Beschrieb der Gemeinde Montricher im Waadtländer Jura werden im Netz unter dem Begriff „Sehenswürdigkeiten“ erwähnt: Die reformierte Pfarrkirche, deren Glockenturm mit einer Spitzhaube und die Bauern- und Bürgerhäuser im Ortskern. Vom einstigen Schloss seien nur wenige Ruinen erhalten. Kommen Touristen nach Montricher, dann ist es aber eindeutig die Fondation Jan Michalski, die sie dorthin geführt hat. Vincent Mangeat und Pierre Wahlen heissen die beiden Architekten aus Nyon, die hier einen Kulturort entworfen haben, der Besucher zu faszinieren vermag. Ermöglicht hat das Ganze die aus Basel stammende Vera Michalski-Hoffmann, Witwe des polnischen Verlegers Jan Michalski.
Was Vera Michalski mit ihrer Stiftung ermöglicht hat, ist mehr als bemerkenswert. Ein langgestreckter Gebäudekomplex, der von weitem schon auffällt, als Hauptgebäude, das eine mit 80 000 Büchern bestückte Bibliothek beherbergt. Kommen sieben Künstlerateliers hinzu, die unter einer blätterartigen Dachkonstruktion hängen. Sie dienen Autoren, Übersetzern und bildenden Künstlerinnen und Künstlern als Wohnstatt und Arbeitsorte, wo sie mehrere Wochen oder sogar Monate ungestört arbeiten können. Ihnen steht die Bibliothek mit ihren Schätzen zur Verfügung. Getragen ist die Institution durch eine Stiftung. Ihr Ziel besteht darin, Literatur zu fördern und Autoren bei der Realisierung ihrer Werke zu unterstützen. Die Unterstützung erfolgt in Form verschiedener Aktivitäten, wie der Vergabe von Förderbeiträgen und der Organisation literarischer Veranstaltungen, aber auch durch die Beherbergung von Schriftstellern.
Die Bibliothek, man kann es ohne Übertreibung behaupten, ist einer der schönsten modernen Buchorte der Schweiz. Helles Holz verleiht dem Innern des fünfstöckigen Baus eine warme Atmosphäre. Das eher schmale Gebäude strahlt eine Geborgenheit aus. Im ersten Stockwerk lädt eine kleine, „L’Aquarium“ benannte Kabine mit Arbeitstisch und gemütlichen Sesseln in rotem Leder zur Arbeit in einer kleinen Studiengruppe ein.
An beiden Längsseiten des schlanken Gebäudes sind topausgerüstete Arbeitsnischen eingerichtet worden, manche mit einer weiten Aussicht bis hin zum Genfersee und zu den Bergen auf der französischen Seite des Lac Léman. In der Regalwand und über dem Innenhof der Bibliothek stehen Stehpulte zur Verfügung für jene Benutzer, die schwere, grosse Folianten konsultieren.
Werke der Weltliteratur stehen hier nach Sprachzonen aufgeteilt in französischer Sprache sowie in weiteren Sprachen auf vier Ebenen zur Auswahl. Polnisch und Russisch, Niederländisch, Englisch, Italienisch, Schwedisch, übersetzte Literatur aus dem arabischen und asiatischen Raum, Belletristik aus Ozeanien und Südamerika: Hier möchte man ein langes Leserleben verbringen, sich vom Erdgeschoss mit seiner französischen Literatur hinaufarbeiten, um gleichzeitig noch mehrere Fremdsprachen zu lernen, in denen gewichtige Werke verschiedener Sprachräume in den langen Büchergestellen stehen!
Ein Leitsystem in mehreren Farben zeigt stets, in welcher Region der Weltliteratur man sich befindet.
In der obersten Etage der Bibliothek treffen sich Literatur und bildende Kunst: Kalligraphie, Typografie, Zeichnungen und Fotografie . Und das Wunderbare: Die meisten Publikationen können auch ausgeliehen werden, auch wenn man sich nicht vorstellen kann, wer aus dem Dorf oder von der 14 Kilometer entfernten Kleinstadt Morges hier Bücher ausleihen würde. Man wandert den Büchergestellen entlang, an denen mal Littérature hispaonphone, italophone, lusophone, Littérature slave et balte, orientale und polonaise steht, staunt über die so gut dotierte deutschsprachigen und englischen Buchbestände und nimmt wahr, dass das Prinzip der hängenden Künstlerateliers hier wiederholt wird: die einzelnen Büchergalerien hängen an der Deckenkonstruktion des Bibliothekgebäudes, die grossen Lampenkörper sind Wolken nachgebildet, die durch die Bücherlandschaft segeln. Hergestellt wurden diese Lampen nach Entwürfen von Stararchitekt Frank Gehry. Beim langsamen Schreiten entlang den Regalen nimmt man beim zweiten und dritten Hinschauen wahr, dass hier noch mehr an Literatur vorhanden ist, sind doch die grossen Sprachräume nochmals unterteilt, die spanischsprachige Literatur zum Beispiel in neunzehn Länder-Untergruppen, die englische in zehn, die französische in acht. Reich ist auch die Präsenz der vier Literaturen der Schweiz.
Kehrt man zum Erdgeschoss zurück, wo bequeme Stühle um einen langen Arbeitstisch stehen und eine Gruppe von Sesseln zum Sitzen und Lesen einladen, staunt man über die vielen Literaturzeitschriften, die im Haus geführt werden, manchen dieser Zeitschriften begegnete der Schreibende in Montricher zum ersten Mal. Neben der Theke, der beaufsichtigenden Bibliothekarin stehen jene literarischen Werke, die den Jan-Michalski-Preis seit seiner Ausrufung im Jahr 2010 erhalten haben. Auch hier ist die Weltoffenheit der Stiftung sichtbar. In zwei Schaukästen sind Leporellos von Sonia Delaunay zu Texten von Blaise Cendrars ausgestellt,
In einem weiteren Ausstellungsbereich im Untergeschoss des Empfangsgebäudes werden jedes Jahr drei Ausstellungen gezeigt, die von Vorträgen und Werkstätten begleitet werden. Diese Ausstellungen sind den Werken von Schreibenden gewidmet, der Geschichte literarischer Strömungen und Gattungen sowie künstlerischen Werken, welche das geschriebene Wort und das Bild miteinander vereinigen.
Fondation Jan Michalski pour l’écriture et la littérature
En Bois Désert 10
1147 Montricher
T: 021 864 01 01
www.fondation-janmichalski.com/de/
Klösterliche Stille
Heinz Egger
Der Weg nach Montricher ist schon eine Reise wert. Nach der Stadt Morges kommen die Reben, dann hin zum Fuss des Jura Landwirtschaft. Schon aus der Ferne ist das Ziel leicht auszumachen. Etwas abseits des Dorfes am Waldrand, Bois Désert genannt, steht das sehr spezielle Gebäude der Fondation Jan Michalski. Die Aussicht über die Ebene zum Genfersee ist überwältigend, selbst wenn dicke Wolken die französischen Berge verbergen und nur die am tiefsten gelegenen Schneefelder zu sehen sind. Regen und ein starker Wind treiben uns unters Blätterdach, wie die von Betonsäulen getragene Betonstruktur genannt wird. Viel Schutz bietet sie allerdings nicht, denn die grossflächigen Ausschnitte lassen Wind und Regen durch. Dafür singen viele Stimmen. Denn die Stahlstangen, mit denen die Gebäudeteile am Blätterdach aufgehängt sind, und wohl auch die Durchbrüche in der Blätterdecke summen ein vielstimmiges Konzert.
Büros, der Aufenthaltsraum, der Essraum und die Wohnkabinen für residente Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Übersetzerinnen und Übersetzer hängen alle an der Decke. Sie sind über Treppen erreichbar. Einzig der Empfang mit kleinem Café, Ausstellungsraum und einem Vortragssaal und die Bibliothek stehen am Boden. Die Grundsteinlegung für dieses einzigartige Ensemble war 2009. Fertiggestellt wurde das Gebäude 2017. Die Architekten heissen Vincent Mangeat und Pierre Wahlen.
Seit dem Sommer 2017 sind Gäste aus aller Welt willkommen. Sie weilen zwischen zwei Wochen und sechs Monaten in einer der Wohneinheiten. Ungestörtes Arbeiten ist in dieser Abgeschiedenheit sicher leicht. Und für Recherchen oder zur Entspannung steht eine umfangreiche Bibliothek zur Verfügung. Diese ist öffentlich. Aussen leuchtet der gelbliche, helle Beton, drinnen dominiert helles Eichenholz.
Das Gebäude ist schmal und lang. Drei Galerien laufen den Längswänden entlang. Sie sind seitlich am Tragwerk des Dachs aufgehängt. Von unten in die vielen Stahlstangen hinaufschauend, denke ich an ein Baugerüst. Die Mitte ist bis zur Decke offen. Lampen aus kunstvoll zusammengeheftetem Papier, das ihnen eine Wolkenform verleiht, hängen von der Decke herab und verbreiten ein warmes, milchiges Licht. Kunstlicht dominiert. Die Galerien erhellen Leuchtstoffröhren. Nur durch die Fenster des nicht begehbaren fünften Stocks fällt Tageslicht ins Haus. „Bienvenu“ heisst es gleich nach der Eingangstüre. Die orange Tafel sagt, wie die Bibliothek organisiert ist und auch ihr Ziel: ein weltumspannendes Panorama der aktuellen und vergangenen Literatur. Die Sammlung der Bücher ist nach Sprachen geordnet. Symbole weisen darauf hin, dass absolute Ruhe gefordert wird, um die Konzentration beim Lesen nicht zu stören.
Büchergestelle bedecken die langen Wände. Im Erdgeschoss sind es 13 Tablare übereinander. Eine Leiter, die an Stangen läuft, gibt Zugang zu den ganz oben stehenden Büchern. Gleich beim Eingang zur Linken finden sich zahlreiche Literaturmagazine. Natürlich in mehreren Sprachen. In der Mitte der talseitigen Wand steht die Theke. Im Raum stehen eine grosse Anzahl Sessel und ein grosser Tisch mit acht Arbeitsplätzen.
Grosszügig, wertvoll – diese beiden Eigenschaften kommen mir gleich beim Betreten des Hauses in den Sinn. Auf beiden Schmalseiten gibt es eine Treppe, auch ein Aufzug ist da. Ich entscheide mich für die hintere Treppe. Im zweiten Stock ist eine der Nischen mit Blick zum See frei. Es ist ein kleiner, enger Arbeitsplatz, aber von zwei Seiten fällt Licht herein. Bei Bedarf schafft ein Vorhang Schatten. Unter dem Tisch steht ein dreieckiges Kästchen als drehbarer Sockel. Es kann sogar abgeschlossen werden. Eine Tischlampe ist da, Steckdosen für die Arbeitsgeräte stehen bereit. An der Rückwand sind Garderobenhaken angebracht. Hier kann man sich so zu sagen fest einrichten und dem nachgehen, wofür man hierher gekommen ist: lesen, recherchieren, schreiben. Jan Michalski und Vera Michalski-Hoffmann wollten immer schon einen Ort zur Förderung der Literatur schaffen. Gebaut wurde er allerdings erst nach dem Tod von Jan Michalski.
Die Bibliothek umfasst etwa 80’000 Bücher. Sie bietet Literatur aus der ganzen Welt an. Alle romanischen Sprachen sind vertreten, auch die Varianten aus Südamerika, Englisch, Deutsch, Arabisch, Russisch und Polnisch. Zahlreiche Bücher sind in der Ursprungssprache und in den entsprechenden Übersetzungen vorhanden. Die Bibliothek wächst. Im Jahr 2017 kamen über 100 Bücher dazu, dabei waren 58 auf Französisch, 21 auf Spanisch und 7 auf Deutsch. Bei den deutsch schreibenden Autoren waren Harald Hartung, Gertrud Leutenegger, Joseph Zoderer, Robert Menasse, Uwe Timm, Michael Köhlmeier und Matthias Zschokke dabei.
Für die Recherche im Katalog steht auf jeder der vier Etagen ein Apple-Computer bereit. Der Katalog ist unter catalogue.fondation-janmichalski.ch intern wie extern erreichbar.
Ein besonderer Stock ist der vierte. Hier sind die Werke unter dem Stichwort „Varia“ vereint. Eine Tafel erläutert, was Varia bedeutet: Ein V, gestaltet nach dem Bereich steht über einem kurzen Text: Littérature experimentale, Typographie, Calligraphie, Littérature et arts grafiques, Littérature et photographie, Littérature, image et son.
Im Bereich der experimentellen Literatur stosse ich auf eine Künstlervereinigung, die seit 1960 eine besondere Art der Literatur herstellt: die Organisation Oulipo. Oulipo steht für Ouvroir de la littérature potentielle. Die Künstler geben sich für das Schreiben Regeln, nutzen Techniken – Contraintes genannt. Reymond Queneau ist einer der Gründerväter des Oulipo. Er entwickelte beispielsweise zehn Sonette, deren Zeilen sich über alle zehn Gedichte hinweg reimen. Indem man nun die Zeilen miteinander kombiniert, beispielsweise Zeile eins vom ersten, Zeile zwei vom zweiten, den Rest vom ersten Gedicht, entsteht ein neues Gedicht. Das Potenzial dieses Zehnersets liegt darin, dass Zehntausend Milliarden Kombinationen möglich sind. Unvorstellbar und unmöglich alle Varianten zu lesen. Das dünne Buch – es würde dafür eigentlich ein Heft reichen! – ist in seiner Erstausgabe ausgestellt.
Ich setze mich in einen der weichen Sessel und blicke mich um. Eine Bibliothekarin schiebt einen Wagen mit Büchern über die Galerie und räumt Bücher in die Gestelle ein. Es sind vielleicht zehn Personen im Haus. Es herrscht absolute Stille.