Fast wie von früher
Michael Guggenheimer
Als vor einiger Zeit eine Autorin, die zu einer Lesung in München eingeladen war, zum ersten Mal die Buchhandlung Lehmkuhl im Stadtteil Schwabing betrat, sagte sie spontan: »Ach, das ist ja wie eine Buchhandlung von früher!». Der Satz war positiv gemeint. Denn die im Jahr 1903 gegründete Buchhandlung ist ein Ort der vielen Bücher, wo buchfremde Artikel wie Duftkerzen, Teetassen und anderer Schnickschnack nicht hingehören. Gleich der erste Satz in der Selbstdarstellung der Buchhandlung macht es deutlich: «Wir sind Buchhändlerinnen und Buchhändler aus Leidenschaft und Begeisterung für gute Bücher. Wir halten fest an dem, was den Beruf des Buchhändlers ausmacht: die Lektüre, die Empfehlung des Gelesenen, der Dialog mit Ihnen. In einer Atmosphäre, die Ihnen, dem Buch und uns angemessen ist».
Morgens, Minuten vor Ladenöffnung, schiebt Geschäftsführer Michael Lemling wie auf dem Markt mit Hilfe einer Mitarbeiterin Auslagengestelle auf Rädern vor die Seitenschaufenster der Buchhandlung. Es sind die Sonderangebote, die Passanten zum Stehenbleiben und Stöbern verführen sollen. Minuten später ist auch der Laden offen. Gleich links im ersten Raum steht ein alter Flügel, es ist der «Literatur-Flügel, das Herzstück der Buchhandlung», er wird nicht mehr bespielt und auch nicht gestimmt, der Flügel dient als Stellfläche für belletristische Neuerscheinungen, auf die man besonders aufmerksam machen möchte. Über den Regalen mit der Belletristik hängen Porträtbilder von Autorinnen und Autoren. Es sind nicht die Jüngsten, die man hier sieht, manche der Fotografierten leben nicht mehr, aber ihre Bücher sind da!
Der erste Eindruck beim Anschauen der vorhandenen Bücher: Eine grosse Buchhandlung, ein sehr literarischer Ort. Im Erdgeschoss dominiert das Hellgrün der Büchergestelle, der Blick reicht weit nach hinten, eine Holztreppe führt in den ersten Stock.
Keine Minute wird es im Laufe des Vormittags geben, in der keine Leserinnen und Leser in der Buchhandlung am Stöbern, Schauen, Lesen und Kaufen sein werden. Schwabing, der Stadtteil, in dem nicht wenige Schriftsteller wohnen, ist ein guter Ort für Bücherleser, die Buchhandlung ein idealer Ort, um Autoren als Kunden anzutreffen. Ganz hinten Im Erdgeschoss eine gemütliche Sitzecke, ein Sofa, ein niedriger Tisch, eine Kaffeemaschine mit richtig gutem Kaffee, der in Tassen und nicht in Pappbechern serviert wird. Hier kann man es sich mit Büchern gemütlich machen oder den Blick über den Hinterhofgarten schweifen lassen und träumen. Gleich nebenan noch das sogenannte Kabinett mit Klassikern, mit Büchern von Manesse und Wagenbach sowie mit Kunstbänden. „Meine schöne Buchhandlung“ – so heißt ein Bildband, der im Münchner Knesebeck Verlag erschienen ist, und in dem die Buchhandlung Lehmkuhl mit Bild und Wort vertreten ist. Zu Recht vertreten. Von aussen an der verkehrsreichen und lauten Strasse erwartet man jedenfalls keine so ruhige Buchhandlung.
Die Verkaufstheke befindet sich nah bei der Eingangstüre, etwas weiter hinten sitzt Michael Lemling vor einem Bildschirm und hilft einem Kunden bei der Suche nach einem Buch, dessen Titel und Autor dem Kunden entfallen ist, ein Titel, den er im Feuilleton gesehen hatte und den er sich nicht merken konnte. Aber worum es in dem Buch geht, das weiss er noch. Buchhändler Lemling hat’s gefunden. Klar. Weil München auch ein Magnet für Ausländer ist, führt Lehmkuhl nicht wenige Bücher in Französisch und Englisch.
Michael Lemling, ist in der Buchhandlung für die Bereiche Politik und Geschichte zuständig. Er hat Germanistik und Politikwissenschaft studiert. Seit 2008 gehört er der Jury des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik an. Im Jahr 2008 war er Mitglied der Jury für den Deutschen Buchpreis. Und wenn schon die Rede von Auszeichnungen ist, dann muss noch angefügt werden, dass die Buchhandlung 2013/2014 mit der Auszeichnung „Buchhandlung des Jahres“ geehrt wurde und dass sie im Jahr 2016 von Kulturstaatsministerin Monika Grütters mit dem Gütesiegel des Deutschen Buchhandlungspreises ausgezeichnet wurde
Fünfzehn Angestellte weist die Buchhandlung auf, zwei Auszubildende. Georg Steinicke gründete die Buchhandlung, zehn Jahre später im Jahr 1913 wurde sie von Fritz Lehmkuhl übernommen, von da der Name, den manche Kunden liebevoll als «Kuhle» aussprechen. Von 1934 bis 2005 war sie im Besitz einer Familie Schumacher. Seit Herbst 2005 gehört sie den Münchner Verlegern Wolfgang und Hans-Dieter Beck. Wer fürchtet, dass die Besitzer die Buchhandlung aufdringlich als Verkaufsstelle für die eigenen Bücher nutzen könnten, staunt über die diskrete Präsenz von Büchern des C.H. Beck Verlags. Der Verlag mit über 600 Mitarbeitern und mit mehr als 9.000 lieferbaren Werken zählt immerhin zu den großen und traditionsreichsten Häusern im deutschen Verlagswesen. Oben im ersten Stock die Literatur zur Region, die Wander- und Radbücher sowie die weite Welt der Ferienziele. Der beschreibende Besucher schaut sich um und stellt fest, dass Lehmkuhl von der Geschichte über Psychologie bis hin zu Kochbüchern alles führt, was er für ein Leserleben benötigt. Ob Philosophie oder Grafic Novels, ob Psychologie, Gesundheit, Elternratgeber und Politik: Man kann ein Leben lang in München wohnen und keine andere Buchhandlung kennen als die Kuhle. Das geht.
Auf die Weihnachtszeit hin gibt die Buchhandlung ein Heft heraus mit Buchrezensionen, alle von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Buchhandlung verfasst, die im Heft auch vorgestellt werden. Zweimal legt die Buchhandlung Lehmkuhl einen Flyer auf, in dem Lesungen angekündigt werden. In der Regel finden die Lesungen in der Buchhandlung statt, 80 Zuhörende fasst der Raum im Erdgeschoss, manche Zuhörer sitzen auf der Treppe, eingeladen werden deutsche und ausländische Autorinnen und Autoren. Eines passt zum Spruch »Ach, das ist ja wie eine Buchhandlung von früher» allerdings bei Lehmkuhl nicht: Die Homepage. Da kann sich manche Buchhandlung die Homesite von Lehmkuhl als Beispiel nehmen. Denn die ist so übersichtlich und so informativ, dass man sogar dann zu guten Büchern kommen kann, wenn man aus irgendeinem Grund einmal daran gehindert sein sollte, die Buchhandlung aufzusuchen. Vorbildlich der Aufbau, vortrefflich auch die vielen vorgestellten Bücher, auch solche, die in englischer oder französischer Sprache erschienen und bei Lehmkuhl zu haben sind.
Buchhandlung Lehmkuhl
Leopoldstrasse 45
80802 München
T: 0049 89 380 150 0
www.lehmkuhl.net
In Schwabing verankert
Heinz Egger
Wir sind etwas zu früh da. Der Laden ist noch geschlossen, aber die Türe steht offen. Die Angestellten rollen Wagen voller Bücher heraus und verteilen sie vor den Schaufenstern und an der Seite des Hauses. Und es geht nicht lange, so stehen die ersten Passanten davor und schauen sich das Angebot an.
Nach der Eingangstüre schaue ich unweigerlich nach links. Dort steht ein Flügel! Und er ist mit vielen Büchern beladen. Der Literatur-Flügel ist denn auch das Herzstück der Buchhandlung. Das steht selbst auf der Website so. Allerdings, so sagt Michael Lemling, der Geschäftsführer, sei dieses Instrument bloss ein Ausstellungsstück, nicht mehr spielbar. Dass hier kein nutzbares Instrument mehr steht, hängt mit dem Besitzerwechsel zusammen. Der oft bei Veranstaltungen eingesetzte Flügel hat die vorherige Besitzerin, die Familie Schumacher, mitgenommen, weil es ihr eigener war. Die Buchhandlung hat eine lange Geschichte. Sie wurde 1903 von Georg Steinicke gegründet. 1913 übernahm sie Fritz Lehmkuhl, von dem sie auch den Namen hat. Von 1934 bis 2005 führte die Familie Schumacher zwei Generationen lang die Buchhandlung und seit 2005 gehört die „Kuhle”, wie sie Leute im Quartier nennen, den Verlegern Wolfgang und Hans-Dieter Beck.
Der grosszügige Eingangsraum bietet Platz für bis zu 80 Gäste. Dass hier regelmässig Veranstaltungen stattfinden, zeigt die fest installierte Infrastruktur wie Beamer und Lautsprecher. Und Lehmkuhl gibt zweimal pro Jahr zwei Faltprospekte mit den Veranstaltungen heraus: einen für Kinder und Jugendliche unter dem Titel „Lehmcool”, der andere für Erwachsene Das Programm des vergangenen Herbsts 2019 von Mitte September bis Anfang Dezember listet 12 Veranstaltungen für Erwachsene auf. Darunter ist auch eine mit den Nominierten für den Schweizer Buchpreis. Und die letzte hat schon eine zehnjährige Tradition: ein Kundenfest.
Diese Gastfreundschaft, die Offenheit und das Interesse an den Kunden ist fast greifbar in diesem Laden. Wir wollen uns in dieser bekannten Buchhandlung, die auch zu den sogenannten 5Plus gehört, nur umschauen. Doch der Geschäftsführer lässt seine Arbeit stehen und zeigt uns seine Buchhandlung. Nein, nicht seine, denn seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen alle eine Verantwortung für einen Bereich. Dort wirtschaften sie selber. Sie geben ihrem Bereich ein Profil, indem sie die Bücher auswählen, einkaufen und auf ein gutes Geschäftsergebnis achten.
Fast entschuldigend meint Michael Lemling, es sei etwas leer im Moment. Ein Blick in die Gestelle kann das nicht bestätigen. Michael Lemling bekräftigt aber seine Aussage noch. Es habe Leute gegeben, die gefragt hätten, ob sie schliessen. Es ist so, dass nach dem Weihnachtsverkauf bis zur Inventur Anfang Januar keine Bücher mehr bestellt werden. Und dann kommt die Zeit mit den Vertreterbesuchen: Während 14 Tagen werden am Morgen drei und am Nachmittag drei von ihnen empfangen. Was für eine wichtige, aber anstrengende Zeit.
Das Erdgeschoss des Ladens wurde 2012 neu gemacht. Die Büchergestelle sind olivgrün gestrichen. Die Gestellanschriften leuchten silbern auf rotem Grund. Die Gestelle ragen nur so hoch, dass auch das oberste Tablar ohne Aufstiegshilfe zu erreichen ist. Über den Gestellen hängen grossformatige Porträts von Autorinnen und Autoren. Aufgenommen hat sie Renate von Mangoldt, die daraus auch einen Bildband erstellt hat. Er enthält 50 Jahre Literaturgeschichte von 1963 bis 2012. Das Buch erschien 2013.
Es gibt vielleicht Besucherinnen und Besucher, die dieses Ambiente etwas altväterisch anmutet. Für mich wirkt es beruhigend, fast heimelig. Es ist dank den weissen Decken und den modernen LED-Leuchten sehr hell im Laden. Die Beleuchtung vermag das Grün fleckenweise zum Strahlen zu bringen, so dass ein kräftiger Kalt-Warm-Kontrast zwischen Licht und Schatten entsteht.
Das Angebot ist enorm gross. Es lässt sich nicht in wenige Sätze packen. Aufgefallen sind mir auf dem Flügel die Bücher von Tokarczuk, Stanišić und Berg, aber auch von Žic, Bogdan und Atwood.
Das Angebot für Krimifans findet sich gleich beim Eingang. Nach links folgt die Belletristik, auch mit Werken auf Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Der Wand folgend finden sich zahlreiche Biographien, die vollständige Reklam-Bücherei, dann die Themenbereiche Philosophie, Theologie, Politik, Wirtschaft und Kulturgeschichte. In einem zweiten Raum stehen Klassik und Hörbücher Schliesslich gibt es noch ein winziges Räumchen, ein Kabinett. Darin sind die Kunst-, Insel-, Wagenbach- und Manesse-Bücher. Eine Sitzgelegenheit lädt zum Verweilen ein.
Im ersten Stock erschlägt einen fast die Farbigkeit der langen Gestellreihe mit den Reisebüchern. Weiter finde ich da die Themen Natur, Literatur zu München, Bayern und Sport. Stofftiere schauen über die Brüstung die Treppe hinunter. Sie zeigen den Kleinen, wo ihre Abteilung ist. Die Jugendbücher, die oben an den Gestellen auf grünem Grund angeschrieben sind, füllen eine Wand nach der Reiseliteratur, die Kinderbücher einen eigenen Raum. Im dritten Raum des Obergeschosses findet man die Abteilungen Psychologie, Eltern und Kind, Garten und Sprachen. Und wer ein Buch bestellt hat, kann es ebenfalls dort abholen.
Nach dem Rundgang frage ich mich, wie sehr die neuen Besitzer, die ja selbst einen Verlag haben, hier präsent sind. Natürlich gibt es die Bücher aus dem Beck-Verlag, aber, so sagt Michael Lemling, mischen sich die Besitzer nicht ein.
Als wir das Haus verlassen, stehen ziemlich viele Leute an den Wagen vor dem Haus. Es sei das moderne Antiquariat, hat uns Michael Lemling erklärt. Es sei seine Idee gewesen, die Bücher so anzubieten. Und die Idee funktioniere gut, auch in einem Quartier, das sehr bürgerlich geprägt sei.
Es ist eben doch richtig, seine Bücher am Ort, wo man wohnt oder arbeitet, zu kaufen. Das stärkt das lokale Gewerbe. Aus diesem Grund ist die Buchhandlung Lehmkuhl auch Mitglied im Verein Buy Local.