Ein guter Ort
Michael Guggenheimer
Olten? Als ein Freund nach Olten umziehen musste, weil er in Zürich keine bezahlbare Wohnung fand, da bedauerten ihn Freunde. Olten? Für die Freunde nichts anderes als ein Bahnknotenpunkt. Noch bevor der Freund in seine neue Wohnung einziehen konnte, wusste er, dass Olten mehr als ein Umsteigebahnhof ist. «Olten ist auch eine Dichterstadt». So wirbt die Stadt für sich. Schriftsteller wie Pedro Lenz und Alex Capus wohnen hier, die Schriftsteller Peter Bichsel und Urs Faes sind in Olten aufgewachsen. Der einst renommierte Walter Verlag holte bis in die 90er-Jahre regelmässig bedeutende Autorinnen nach Olten. Die Stadt wurde selbst zu Literatur. In Alex Capus’, Otto F. Walters, Urs Faes’ und Urs Widmers Texten finden sich Stellen, die mit Olten zu tun haben. Übersetzerinnen und Übersetzer machten erst im März 2019 in Olten im Rahmen des Festivals «aller-retour», die Vielfalt der Schweizer Literatur erlebbar. Und während des ganzen Jahres kann man in Olten literarische Wanderungen unternehmen: Die Autoren Alex Capus, Franz Hohler, Pedro Lenz und Christian Schenker verführen auf Audiotouren zum Spazieren und Zuhören. Die Geschichten werden von den Autoren selber vorgelesen und sind eng mit der Persönlichkeit und dem jeweiligen Standort verbunden. Mit Smartphone oder Tablet lassen sich die an 60 Hörstationen angebrachten QR-Codes scannen und sich die zwei- bis vierminütigen Geschichten zu Gemüte führen.
Dafür dass Olten für Literaturfreunde ein guter Ort ist, trägt auch die 1926 durch den Deutschen Carl Schreiber gegründete Buchhandlung Schreiber an der breiten Kirchgasse schräg gegenüber der Stadtkirche St. Martin bei. Anfänglich war die Buchhandlung knappe 70m2 gross. Ein erster Ausbau erfolgte Beginn der achtziger Jahre unter dem damaligen Besitzer Georg Ihle auf gute 230m2. Im Jahre 2003 wurde die Buchhandlung auf grosszügige 1000m2 Fläche und drei Stockwerke durch den heutigen Eigentümer Urs Bütler ausgebaut und mit neuen Bereichen wie klassischer Musik ergänzt. Inzwischen umfasst die Musikabteilung auch Pop/Rock, Jazz, Soul, Roots, Rhythm & Blues und World-Musik. Zwei Hörstationen erlaiuben es einem, CDs zu hören. Wer in Olten wohnt, weiss es: Es gibt kein anderes Geschäft in der Stadt mit einer so reichen Auswahl an CDs, Langspielplatten und Noten. Vincenzo di Giuseppe, der für den Bereich Musik sowie für die meisten Sachbuchbereiche zuständig ist, hat früher im Musikalienhandel gearbeitet und ist die richtige Fachperson bei Fragen rund um die Musik im Haus.
Betritt man die Buchhandlung, fallen einem die beiden Verkaufstheken links und rechts von Liftanlage und Treppenhaus auf. Man ist kurz verwirrt, weiss nicht, soll man nach rechts gehen oder eher links das Bücherreich betreten. Man hat die Wahl: Entweder geht man rechts zu den Bestsellern an den Bereichen Fantasy und Film vorbei, schaut sich auf einem breiten Korpus die vielen Kochbücher an, zu denen auch Literatur zum Thema Fasten auffällt. Ein zweiter Korpus gilt der Belletristik und spätestens als man sich nochmals zum Eingang begibt und links vom Aufzugsschacht die Buchhandlung zum zweiten Mal betritt, versteht man die Psychologie der Warenpräsentation bei Schreiber. Denn auch hier liegt die Belletristik nochmals und mit anderen Titeln auf. Inhaber Urs Bütler kann einem erklären, weshalb die Belletristik in seiner Buchhandlung zweimal zwei unterschiedliche Bereiche aufweist: Viele Kunden gingen nach Betreten der Buchhandlung an der linken Theke entlang, schauten sich hier die ausgestellten Bücher an, um sich nachher hinter dem Liftschacht noch den zweiten «Arm» der Buchhandlung anzuschauen, den sie zunächst nicht aufgesucht hätten.
Buchhändlerin Lisa Schweizer, die für Auswahl und Präsentation der Belletristik zuständig ist, ordnet gerade die Bücher ein und bestätigt nochmals, dass die Belletristik mit Absicht an zwei Orten im Laden aufliegt. Aus dem Buch «Patria» von Fernando Aramburu schaut ein Lesezeichen mit ihrem Bild heraus, denn sie empfiehlt den Roman zur Lektüre, dessen sehr politisch gefärbte Handlung im Baskenland spielt. Wer sich die Leseempfehlungen der Buchhändlerinnen und Buchhändler anschauen will, der kann sie alle zudem auf der differenziert aufgebauten Homepage von Schreiber finden. Hat man den Eingangsbereich der Buchhandlung mit den zwei Bereichen links und rechts des Aufzugschachts besucht, bietet sich die Möglichkeit an, sich tiefer in den Laden zu begeben, wo man sich entscheiden kann: Entweder man begibt sich über eine Treppe in den ersten Stock oder taucht im Unterschoss ein. Beide Varianten führen zu vielen Büchern, die untere Variante zudem zu einer sehr gut assortierten Papeterie, zu den Reisebüchern, den Wörterbüchern und Schulbüchern.
Im ersten Stockwerk die Sachbücher. Und das Café. An schönen Sommertagen bietet Schreiber auf einer Sonnenterasse auf der Rückseite des Hauses Getränke und Gebäck an. Ist es einem draussen zu heiss oder zu kühl, kann man sich an eines der runden Tische im ersten Stock setzen, eine der aufliegenden Tageszeitungen lesen oder sich Sachbücher von den Regalen holen, um sie anzuschauen. Sehr breit ist hier die Auswahl an Büchern. Kunsthandwerk, Design, Mode, Hobby, Spiele, Sport, Verkehr, Fotografie, Architektur, Kunst, Musik, Biografien, Geschichte, Politik sind Titel von Tablarbereichen. Jazz, Soul und Blues ist jener Bereich überschrieben, in dem nicht wenige CDs angeboten werden.
Olten Provinz? Bei der ernst zu nehmenden Buchhandlung Schreiber gewiss nicht. Angenehm ist der vor einigen Jahren verkehrsberuhigte Platzbereich vor der Buchhandlung geworden. Kunstmuseum und Naturmuseum liegen schräg gegenüber der Buchhandlung. An schönen Tagen werden vor den Schaufenstern der Buchhandlungen Getränke serviert. Dass die Buchhandlung Schreiber so gut dotiert ist, ist gewiss den beiden Besitzern Wiebke Steinfeldt und ihrem Mann Urs Bütler zu verdanken. Steinfeldt kommt von der Verlagsbranche und war in Deutschland bei Droemer Knaur tätig. Bütler hat nach der Matur die Ausbildung zum Buchhändler absolviert, zunächst in Brugg und Aarau in Buchhandlungen gearbeitet, um später bei Schreiber einzusteigen und den Laden zu übernehmen. Wie man im Buchhandel besser überlebt, wenn man das eigene Geschäft auf mehreren Standbeinen stützt, hat er in der USA in Ann Arbor erlebt. Büchertische zu Semesterbeginn an den verschiedenen Standorten der Fachhochschule Nordwestschweiz, die Belieferung der Uni Basel und von Schulen mit Büchern bis hin in den Kanton Graubünden gehören zur Diversifikation des Unternehmens. Für die Lesungen ist Wiebke Steinfeldt mit ihren guten Verlagsbeziehungen zuständig. Manchmal treten hier Autoren auf, die man eher in den grösseren Städten Zürich oder Basel erwartet, so etwa Rafik Schami, Richard David Precht oder Ulrich Tilgner. Ken Follet, dem 280 Zuhörende in der Buchhandlung zugehört haben, war in keiner anderen Buchhandlung in der Schweiz zu einer Lesung . «Es gibt immer noch weisse Flecken auf der Buchhandlungslandkarte der Schweiz», sagt Urs Bütler, der mit seiner Frau vor einigen Jahren eine Buchhandlung im Engadin übernehmen wollte, was nur daran scheiterte, dass die frühere Besitzen des Ladens Nachfolger haben wollte, die im Hochtal ansässig sein mussten.
Buchhandlung Schreiber
Kirchgasse 7
4600 Olten
T: 062 205 00 00
www.schreibers.ch
Viele Standbeine
Heinz Egger
Was fällt mir zu Olten ein? – Oltener Aktionskomitee mit Robert Grimm, Schriftsteller Alex Capus und Franz Hohler, die Nago mit dem Schokoladengetränk Banago, literarische Stadtrundgänge, ein Kunst- und Naturmuseum, die beide dringend der Erneuerung bedürfen, die Fachhochschule Nordwestschweiz, das Gelände eines ehemaligen Zementwerks, auf dem schon seit Jahren gebaut werden sollte… Ja, und Solothurn ist halt Kantonshauptstadt. Dafür ist Olten ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, eine schöne Holzbrücke führt über die Aare in eine kleine, aber feine Altstadt. Seit ein paar Jahren ist sie gar ohne Verkehr. Die Kirchgasse ist leer, wenigstens den grössten Teil der Woche. Wenn aber Wochenmarkt sei, so seien sie sehr beschäftigt, sagt der Inhaber der Buchhandlung Schreiber, Urs Bütler. Ja, doch auch wegen den Büchern, denn viele kommen herein, um sich umzuschauen. Aber begehrt sind die 40 Plätze vor dem Haus, denn dort betreibt die Buchhandlung ein Café unter Sonnenschirmen.
Nein, das Café ist nur ein Bein der Buchhandlung, sagt Urs Bütler. Er ist ein sehr engagierter Buchhändler. Es war wie eine Erleuchtung, denn als er einmal nach der Matur auf dem Velo heimwärts fuhr, war im plötzlich klar, dass er Buchhändler werden wollte. Er fand auch ganz leicht eine Lehrstelle. Ja, Maturanden, die Buchhändler werden, das wäre schön. Urs Bütler stellt fest, dass die jungen Leute, die diesen Beruf erlernen wollen, oft nicht das Richtige mitbringen. Es brauche Biss zum Durchhalten, Engagement, Ideen und den Willen, diesen Ideen auch zum Durchbruch zu verhelfen. Selbstverständlich steht im Laden eine Lernende. – Ich schätze, die junge Frau durchläuft eine „harte“ Schule, aber sie wird mit einem vollen Rucksack ins Berufsleben hinausgehen.
Der Laden ist hell, transparent und gross. Seit dem Umbau 2003 bietet er 1000 Quadratmeter Verkaufsfläche auf drei Etagen. Die Büroarbeitsplätze sind ins zweite Obergeschoss des alten Hauses ausgelagert. Es gibt zwei Eingänge, bei jedem steht eine Kassatheke. Der lange Raum wird durch den Liftschacht und das alte Treppenhaus weiter geteilt. Büchergestelle aus hellem Holz mit schwarzen Schubladen in den Sockeln säumen die Wände. Es herrscht eine gezielte Ordentlichkeit. Von weitem sichtbar sind die Plätze, an denen man Hilfe bekommt. Weiss leuchtet über den Inseln eine Säule mit der Aufschrift „Info“. Und es dauert nie lange, bis jemand des Verkaufsteams auf einen zukommt und nach den Wünschen fragt. Das tut bei mir Lisa Schweizer. Sie hat nach Kindern und anderen Tätigkeiten in den Buchhandel zurückgefunden. Sie ist begeistert von ihrer Arbeit und dem Umfeld, in dem sie ihre Tätigkeit ausübt.
Zuhinterst liegt die Kinderecke. Eine Lok 2000 fährt dort aus dem Tunnel und lädt die Kleinen ein, einzusteigen und dort ihre Bücherwünsche lesend zu erfüllen. Davor führt die stählerne Treppe mit Tritten aus grünlichem Milchglas in den Keller und in den ersten Stock.
Im Untergeschoss befindet sich eine grössere Papeterieabteilung, die aber neben den üblichen Papierwaren geschmackvolles, auch kostspieliges Schreibzeug anbietet. Dort findet man auch Bücher für die Hand des Lehrers, solche über den Erwerb der deutschen Sprache als Fremdsprache und Lernprogramme für Englisch und Französisch, Portugiesisch, Chinesisch und Spanisch. Drei raumhohe Gestelle mit englischer, drei weitere mit französischer und italienischer Literatur und unter dem Fenster Dictionnaires. – So findet man in dieser Buchhandlung Michelle Obamas Buch gleich auf Englisch, Deutsch und Französisch! Die Reiseführer und Landkarten sind ebenfalls im Keller ausgestellt. Alle Gestelle im Haus sind gleich. Oben sind sie mit grossen schwarzen Buchstaben auf Glas beschriftet und geben einen sehr schnellen Überblick. Europa, Asien, Afrika, Amerika lauten sie zum Beispiel bei den Reiseführern. Dabei belegt Europa allein drei Gestelle. Auf einem Tischchen davor, passend zum Thema stehen vier kleine Köfferchen davor Teekannen und Teetassen und Bücher zum Reisen. Die Idee, zu einem Thema auch Sachen, die keine Bücher sind, zu stellen, zieht sich durchs ganze Haus. Bei den Köchbüchern auf einem rechteckigen Tischchen, die ebenfalls im Keller aufliegen, stehen Einkaufstaschen, auf denen zu lesen ist: „än heisse Sack“ . Darin stecken zwei weisse Pakete und ein Schächtelchen Zündhölzer liegt oben drauf. Der Sack ist ein „Einwegfeuer” und kann leicht an zwei Dochten angezündet werden. Um die Taschen herum liegen Bücher übers Grillen, Backen, Niedertemperaturgaren, Frittieren und Zubereiten „sous vide“.
Er stecke jeden Franken in Bücher, sagt Urs Bütler. Das sieht man auf Schritt und Tritt! Es ist also keine Überraschung, Bücher zu finden, die an keinem anderen Ort aufliegen! Und doch hat es mich sehr überrascht, im ersten Stock quasi zuerst auf ein leeres Tablar zu stossen, auf dem zu lesen ist „Gehirn, Kopf“. Ich stutze, finde aber das Bild gut: Es lohnt, vor dem Betreten des Schreibers den Kopf zu leeren und sich überraschen zu lassen! Natürlich erklärt mir Vincenzo Di Giuseppe, der Stellvertreter des Geschäftsinhabers, was es mit dem leeren Tablar auf sich hat. Ein weiteres Standbein der Buchhandlung sind die Lieferung von Büchern für Hochschulen. Hier nahm man eine Idee aus Amerika auf: Wenn die Studierenden nicht in die Buchhandlung kommen, dann könnte man ja mit den Büchern zu ihnen gehen. Genau das macht das Team bei Schreiber. Sie gehen zu Semesterbeginn mit den Büchern in die Hochschule – in Olten, in Muttenz, in Windisch. Es lohnt sich und die Studierenden freuen sich ebenfalls. Wenn diese Verkäufe vorüber sind, kommen die restlichen Exemplare nach Olten zurück und werden genau in diesem Gestell einsortiert, damit sie schnell zur Hand sind, wenn danach gefragt wird. Andere Beziehungen des Hauses führten schliesslich dazu, dass Schreiber im Engadin nicht nur eine Hotelbibliothek betreut, sondern auch eine grosse Schule mit den benötigten (Schul-)Büchern beliefert.
Ein paar Schritte weiter auf diesem Stock stosse ich auf ein weiteres Standbein der Buchhandlung: Musik. Schreiber vertreibt Musik beispielsweise Rock, Pop, Jazz, Soul und Blues, vor allem aber auch Klassik, weil es in Olten kein entsprechendes Angebot mehr gibt. Das Meiste ist auf CDs und neuerdings allerdings auch wieder auf Vinyl. Und hier kann Vincenzo Di Giuseppe helfen, denn beruflich kommt er ursprünglich aus dem Schallplattenhandel.
Für die Winterzeit gibt es im ersten Stock ein paar runde Tische mit je drei Stühlen. Falls das Wetter es zulässt, stehen auch Sitzplätze auf der Terrasse zur Verfügung. Dies ist ein lauschiger, ruhiger Ort, abgewandt von jedem Verkehr und Lärm der Passanten. Während ich an einem der Tische meine Notizen mache, installiert sich ein Jüngling auf dem halbrunden Sofa bei der Treppe. Lässig wirft er seine Schuhe von den Füssen, legt sich bäuchlings hin und beginnt zu lesen. Es scheint spannend zu sein, denn seine Beine sind nie ruhig …
Mein Bild von Olten hat sich um ein schönes Element erweitert: Schreiber wäre die Buchhandlung der Wahl, wohnte ich an diesem Ort, an dem so viele bloss vorbeifahren.