Markthalle mit Spezialitäten
Michael Guggenheimer
Von aussen sieht man ihr auf den ersten Blick die Grösse nicht an. Die Buchhandlung La Liseuse in Sion ist nämlich gross und verströmt mit ihren vielen Neonleuchten den etwas spröden Charme einer Einkaufshalle. Wie sehr ein erster Eindruck täuschen kann! Bleibt man vor den Schaufenstern stehen, dann erkennt man schnell, dass hier engagierte Buchhändler mit Bedacht ihre Bücher den Passanten zeigen. In jedem der drei Schaufenster wird ein Thema präsentiert. Menschenrechte und die Freiheit des Wortes, gerade jetzt angesichts der Verhaftungen von Medienschaffenden und Autoren in der Türkei von belastender Aktualität, werden in einem Schaufenster mit Büchern von Asli Erdogan und Pinar Selek vorgestellt. Dazu ein grosses Plakat von Amnesty International mit dem Bild der Schriftstellerin Asli Erdogan, die in der Türkei seit Jahren schikaniert wird und mehrfach schon inhaftiert war. Auch das zweite Schaufenster ist einem Sachgebiet gewidmet. Diesmal dem Thema Sterben. Und das dritte Schaufenster präsentiert das Thema Reisen. Aber nicht in einer blossen Anreihung von Reiseführern. Hier geht es reiseliterarisch zu und her: Nicolas Bouvier, Sarah Marquis, Ella Maillart oder Joris Lieven beschreiben mehr als Monumente, die man gesehen haben soll. Ihnen geht es um die Kunst des Reisens, um die Beweggründe für Reisen und um das Verständnis für fremde Lebenswelten. Zwischen allen diesen Themen dann noch Biografien von Persönlichkeiten, die zum Widerstand aufgerufen haben: Primo Levi, Nelson Mandela, Elie Wiesel, James Baldwin, Varian Fry und Mahatma Gandhi. Ja, diese Buchhandlung hat etwas mitzuteilen!
Bevor La Liseuse vor 14 Jahren an die Rue des Vergers eingezogen ist, war hier ein Supermarkt untergebracht. Anstelle von Gemüse zogen hier Bücher ein. Man merkt dem grossen Raum den früheren Zweck immer noch an. Beim Betreten der Buchhandlung der Eindruck, dass hier nicht die Raumästhetik bei der Einrichtung im Vordergrund stand. Alles wirkt auch trotz der sichtbaren Rubrikeneinteilung eine sympathische Nuance ungeordnet, der Tisch der Leiterin ebenso wie ein weiterer Tisch, bei dem angesichts der vielen Zeitungsausschnitte, der Verlagsprospekte und der aufgetürmten neuen Bücher nicht klar ist, ob hier Kunden sitzen dürfen oder Mitarbeiter der Buchhandlung am Werk sind. Chaos? Nein, keineswegs. Françoise Berclaz, Besitzerin von La Liseuse, weiss ganz genau, wo sich welche Bücher befinden. Ganz vorne beim Eingang im Hinblick auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich alle die Biografien: Emmanuel Macron, Marine Le Pen, François Fillon, Benoît Hamon sowie der abtretende François Hollande, dem die beiden Bücher gelten „A quoi sert le président. Comprendre la crise du politique“ sowie „Sonnons l’alarme, faits et gestes de la présidence Hollande“. Man ist hier eben emotional näher bei Frankreich als in Zürich, das Interesse an der französischen Politik ist hier eindeutig stärker als in der Deutschschweiz.
Und dann die Überraschung: Ein ganzes Büchergestell mit Büchern des im Jahr 2001 verstorbenen Walliser Autors Maurice Zermatten. Die Figuren seiner Bücher stammen häufig aus dem bäuerlichen Milieu und bewegen sich in moralischen und in religiösen Grenzsituationen. In seinen literaturkritischen Werken befasste er sich mit den Westschweizer Autoren Charles Ferdinand Ramuz und Gonzague de Reynold. Und was einem älteren Deutschschweizer in Erinnerung bleibt: Als Präsident der Schweizerischen Schriftstellerverbandes löste er die Abspaltung der 1970 gegründeten Gruppe Olten aus, als er das amtliche „Zivilverteidigungsbüchlein“ ins Französische übersetzte, ein Buch im Geist des Kalten Krieges, das die Bevölkerung zu gegenseitiger Bespitzelung aufforderte. Das in alle Haushalte verteilte Buch löste eine intensive Auseinandersetzung über die Landesverteidigung und über das Misstrauen des Militärs aus. Die in der Buchhandlung La Liseuse zum Verkauf angebotenen Bücher von Zermatten stammen zum Teil aus den Jahren 1936 und 1938. Weshalb es zu einem Büchergestell mit seinen Büchern kommt, wird im Gespräch klar: Buchhändlerin Françoise Berclaz ist Zermattens Tochter. In ihrer Kindheit und Jugend lernte sie viele Autoren im Elternhaus kennen. „In meiner Kindheit war ich von Büchern umgeben. Das hat meine Lust am Lesen geweckt. Aber wenn man Buchhändlerin sein will, muss man auch den Kontakt zu Menschen und Gespräche über Bücher mögen“. Ihr Vater sei doch nicht der Autor jenes Büchleins gewesen, er habe es bloss übersetzt, fügt sie an.
Ein Satz ihres Vaters hatte dazu geführt, dass sie nach dem Studium der Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg Buchhändlerin wurde und die kleine Buchhandlung „La librairie moderne“ im Jahr 1983 übernahm, mit der sie nach dem Freiwerden des ehemaligen Supermarkts an den jetzigen Ort zog und ihr gleich einen neuen Namen gab. „Mein Vater“, erzählt sie, „kannte den Kunstkritiker René Huygue. Als der eines Tages bei uns zu Besuch weilte, sagte er ihm, dass seine Tochter eine Buchhändlerin sei. Ich kann mich noch gut an diesen Satz erinnern. Seit ich siebzehn war, träumte ich davon, einmal Buchhändlerin zu werden. Ich hätte nach dem Studium gut Lehrerin werden können, aber ich erfüllte mir diesen frühen Wunsch und wurde wirklich Buchhändlerin.“
Françoise Berclaz ist Präsidentin des Verbands der Westschweizer Buchhändler, die in der Westschweizer Association des libraires de langue française (ASDEL) zusammengeschlossen sind. Den Westschweizer Büchermarkt kennt sie, die vor 34 Jahren den Schritt als Buchhändlerin gewagt hat, bestens. Dass man von Büchern alleine in einem Gebiet, das so klein ist wie die überschaubare Westschweiz, nicht finanziell auf die Runden kommt, weiss sie, deren Mann Arzt ist. Dennoch hat sie sich den Büchern verschrieben. Die Westschweizer Autoren werden bei La Liseuse besonders gepflegt, die Bücher von Gallimard, die weissen Bände mit der roten Bauchbinde gibt es hier ebenso wie die berühmte Reihe Que sais-je oder die Dünndruck-Bücher von La Pléiade mit ihren edlen Einbänden, bei denen man manchmal für einen einzelnen Band gleich bis zu Fr. 104 auf den Tisch legen muss. Für Deutschschweizer, die das literarische Schaffen in der französischsprachigen Schweiz kaum kennen, loht sich ein Blick auf die Gestelle mit der Überschrift „Littérature suisse“, wo dicht an dicht von den Büchern Etienne Barriliers bis zu denen von Yvette Zgraggen und Rachel Zuffrey man Namen begegnet, die in der Deutschschweiz kaum in den Gestellen der Buchhandlungen anzutreffen sind. Weshalb nicht nach Sion fahren und sich mit Literatur der Suisse romande eindecken? Allons-y!
Librairie La Liseuse
Rue des Vergers 14
1950 Sion
T: 027 323 49 27
www.laliseuse.ch
Lesestoff en masse
Heinz Egger
Der Empfang in Sion: Die Sonne drückt durch dicke Wolken. Nach der Unterführung von den Gleisen her steht man zuerst vor einem grossen Gebäude. Es ist, als versperre der Klotz einen grossen Platz. Links der Busbahnhof. Rechts am Gebäude vorbei kommen Veloabstellplätze und Parkplätze. Weitere Okkupanten der Weite. Die Avenue de la Gare ist dann breit, lang, baumbestanden. Und über das breite Trottoir strömen unzählige junge Leute dem Bahnof zu. Mittagszeit. Wo diese jungen Leute ihre Bücher für die Schule und für den eigenen Bedarf kaufen? In der Buchhandlung „La Liseuse“ vielleicht?
Sie sei wohl die einzige Buchhändlerin, die einen Supermarché übernommen habe, sagt Françoise Berclaz stolz mit der Hand auf die Grösse ihres Lokals weisend. In der Tat, der grosse Raum erinnert an einen kleinen Supermarkt. Vorne und ein Stück an der Seite Schaufenster, im Zentrum die Eingangstür. Auf der einen Längsseite hoch oben lässt ein Streifen niedriger Fenster Tageslicht herein. Sonst aber dominieren fensterlose Mauern. Allen Wänden entlang laufen hohe Büchergestelle. Françoise Berclaz winkt uns zu einem kleinen, quadratischen Fenster an der Seite. Sie weist auf das gegenüberliegende Gebäude und sagt, dort habe alles begonnen, in einem sehr kleinen Raum. Sie hat zwar Literatur studiert, aber sie wollte nicht als Gymnasiallehrerin enden. Es zog sie zum Buch hin. So startete sie eine Ausbildung bei einem Bouquiniste, einem Antiquar. Ihre eigene Buchhandlung öffnete sie mit kleinem Bestand. Neue Bücher gab es, wenn am Ende des Monats Geld für solche vorhanden war. Sie muss erfolgreich gearbeitet haben, denn im jetzigen Lokal ist ein Meer von Büchern vorhanden.
Sion liegt bereits jenseits der Sprachgrenze im Wallis. Trotzdem finden sich auch viele deutsche Bücher in zwei Gestellen vorn bei den Schaufenstern. Ein näherer Blick zeigt aber, dass es vorwiegend Klassiker sind. Bücher aus dem Stoff, der am Gymnasium gelesen wird. So sind Borchert, Böll, Frisch, Storm und Zweig, aber auch Schlink, Suter und Stamm mit einzelnen Titeln mehrfach vorhanden. Aber auch ein Gestell mit englischer und italienischer Literatur ist vorhanden. In der englischen Abteilung stehen ebenfalls mehrfach vorhanden Salingers „The catcher in the Rye“, Huxleys „Brave new world“ oder Shakespeares „King Lear“.
Der grosse Rest aber ist französisch. Französisch ist auch die Sprache der Kundinnen und Kunden. Eine Mutter steht mit ihren drei Kindern in der Kinder- und Jugendbuchabteilung. Die Kinder dürfen sich ein Buch auswählen. Sie stöbern, betrachten, blättern, setzen sich nieder und rufen sich gegenseitig, um zu zeigen, was sie gefunden haben. Die Auswahl ist gross, entsprechend ist es schwer, sich zu entscheiden. Mama muss helfen, auch damit das Ausgewählte zum Alter passt. Schliesslich stehen alle an der Kasse, ganz aufgeregt, endlich das Buch ihr eigen nennen zu dürfen.
Hat die Mutter auch etwas für sich genommen? – Für sie hätte vielleicht eines der beiden wunderschönen Bücher von Larousse gepasst. Nein, es sind für einmal keine Dictionnaires, oder Dicos, wie es an einem Gestell heisst. Das eine ist dem Brot gewidmet, das andere der Schokolade. Das Zweite rühmt sich als „La référence de la gourmandise.“
Gleich hinter der Kasse ist die Wand weiss. Buchrücken an Buchrücken drängt sich Paperback an Paperback in den Gestellen aus verzinktem Blech. Metallene Einstecker tragen zur Orientierung das Alphabet. Eine Art Tunnel aus zwei Büchergestellen und einem shedartigen Dach, der innen und aussen mit Büchern gefüllt, ist steht im Raum. Es ist eine Spezialanfertigung, die aus der Zeit auf der anderen Strassenseite stammt. Eine Lösung, um auf engstem Raum möglichst viele Bücher einordnen zu können und gleichzeitig sie leicht zugänglich zu machen.
Oben an den Büchergestellen weisen einem die blechernen Schilder den Weg zur gesuchten Rubrik: Littérature, Littérature Suisse, Philosophie, Cinéma, Beaux Arts, Poésie, Théâtre, Musique, Valais. Auf einem Tisch liegen zum Thema Wallis: Jean Rossat „Le Valais par les mots croisés“, Martin Fardey „Les Bisses, l’or bleu du Valais“, „Rétrospective, 15 ans de photographie en Valais“. Und die Annales Valaisannes 2016 mit dem Kind in den vergangenen 200 Jahren. Es geht um Gesundheit, Bildung, Schutz und Gesellschaft: „L’enfant en Valais 1815 – 2015“.
Auch in der Romandie sind die Bücher, die sich mit dem Alltag und mit Ratschlägen, wie er zu meistern ist, zahlreich. „Als Paar leben“, „Das beste Medikament sind Sie“, Mein Kampf für eine humanitäre Psychiatrie“, „Man hört mir nicht zu“, „Seine Träume leben, schnell“. Und auch die Kinder sind schon im Visier: „Développement personnel pour les enfants“.
La Liseuse ist eine Einladung zu einer Entdeckungsreise. Allez-y!