Architektonische Perle
Michael Guggenheimer
«Willkommen in der schönsten Bucht Europas». So preist sich die Stadt Spiez am Thunersee auf ihrer Homesite an. Ob nun hier im Berner Oberland wirklich die schönste Bucht Europas anzutreffen ist, bleibe dahingestellt. Wahr ist, dass die 13 000 Einwohner zählende Gemeinde eine sehr schöne Bibliothek besitzt. Und es trifft auch zu, dass man als Ortsunkundiger vom Bahnhof aus den Weg zur Regionalbibliothek leicht findet, weil die Signalisation einen direkt zum schönen Bau im oberen Ortsteil führt. Bevor wir die innere Organisation der Bibliothek anschauen, schreiten wir die Fassade des Gebäudes ab. So speziell, so schön der Bau, dass das Architekturbüro bauzeit in Biel nicht unerwähnt bleiben darf. bauzeit ist eine Architektengemeinschaft, die für ihre Entwürfe schon ordentlich und verdientermassen Preise erhalten hat. Unter den Auszeichnungen fallen auf der „Prix Europan“, der „AIA Award“ des American Institute of Architects und die Schweizer Auszeichnungen wie der „ATU Prix“ und der „Holzpreis Lignum Schweiz“.
Holz ist auch jenes Material, das einen in diesem Fall bei der Besichtigung der Bauhülle und des Gebäudeinnern auffällt. Die dunkle stark vertikal gegliederte Holzfassade mit ihren Planken wirkt so als sei sie von der Sonne gegerbt worden, sie erinnert an die Struktur von Büchern, die in den Regalen einer Bibliothek stehen. 172 Buch- und Spiele-Titel sind in den vertikalen Holzeinheiten eingefräst worden, wohl als Verneigung vor der Arbeit der Autoren, deren Werke in der Bibliothek bewahrt werden. Man schreitet die Fassade ab, neigt den Kopf genauso wie beim Abschreiten eines Büchergestells, beginnt zu lesen und erkennt vertraute Buchtitel. Mit computergesteuerten Fräsen wurden typografische Vorlagen in verschiedenen Tiefen dreidimensional ins Holz gekerbt – mal negativ, mal positiv. Je nach Licht und Witterung werden auf den zweiten Blick die Buch-Titel sichtbar.
Die Buchtitel hat Susanne Dubs aus Magglingen ausgewählt, die beruflich auf die Visuelle Kommunikation in der Architektur spezialisiert ist. Zu ihrer Arbeit meint sie: «Die Auswahl der auf der Fassade zitierten Buchtitel entstand nach einer ausführlichen Reflexion über die wichtigen Bücher in meinem Leben. Nach mehrfacher Reduktion entstand eine Liste, die nicht Anspruch auf Vollständigkeit, jedoch die Qualität hat, beim Betrachter Assoziationen zur Region, zum Leben der Menschen und ihrer Landschaft auszulösen. Es entstand eine persönliche Verneigung vor der Arbeit von Autoren – nicht nur aus der Schweiz – welche die Besucherinnen und Besucher der Bibliothek Spiez vielleicht neugierig auf das eine oder andere Buch macht». Eine gewitzte Dame muss Susanne Dubs sein, hat sie doch für ein Holz folgenden Titel einfräsen lassen: «Madame Dubs de Macolin». Auch ich habe zunächst an einen Buchtitel gedacht und übersehen, dass Macolin auf Deutsch Magglingen heisst, Frau Dubs’ Wohnort.
Die Regionalbibliothek Spiez zählt rund 60 000 Besucher im Jahr. Und sie ist ein Ort, in dem von Anbeginn die Schwellenangst genommen wird. Man betritt das helle Gebäude und befindet sich vorerst in einer Cafeteria, der gegenüber eine Auskunftstheke steht. Sofort wird klar, dass hier Bibliothek und Ludothek im selben Gebäude und auf derselben Höhe eingerichtet wurden. Bibliothek und Ludothek werden von derselben Organisation getragen. Von klein an werden Kinder mit dem Ort der Bücher vertraut: Während sich die Kinder in der Ludothek umschauen, können sich ihre erwachsenen Begleiter nebenan zwischen den Bücherregalen bewegen, Bücher auswählen, die sie mit nach Hause nehmen wollen. Irgendwann findet dann die Entdeckung der Bücherwelt statt. Und spätestens in der Schulzeit lernt jedes Kind die Bibliothek kennen.
So wie die Hülle des Gebäudes von Holz geprägt ist, so spielt Holz auch im Innern eine wichtige Rolle. Decke, Wände und die tragenden Säulen sind alle mit hellem Holz verkleidet. Ursula Ramseier, einer der sieben Bibliothekarinnen, erläutert, dass auch hier einheimisches Holz aus dem Emmental zum Einsatz gekommen sei. Hell ist der geschliffene Betonboden, weiss sind die Büchergestelle aus Metall, wunderbar übersichtlich und zum Teil unkonventionell die Einteilung nach Leseinteressen
«Kult & Quer» heisst ein Bereich, wo sich Werke von Schweizer Autoren und Philosophisches finden lassen. «Gefühlswelten» lautet eine andere Spartenbezeichnung, bei der Bücher zu den Themenbereichen Liebe, Heiteres, Heimat, Partnerschaft und Erotik auf Leseraugen warten. So unkonventionell diese Einteilungen sind, ganz zu überzeugen vermögen sie nicht. Ebenso wenig wie eine Aufteilung von Büchern in einem Gestell unter den Titel «Männer» und «Frauen». Weshalb Bücher von Michael Köhlmeier dem Fach Männer zugeordnet sind überzeugt ebenso wenig wie die Zuordnung von Isabell Allendes Bücher unter dem Begriff Frauen. Viele Schmöker sind in den Regalen zu finden. Ein etwas elitärer Blick mag da skeptisch bleiben. Aber wie sagte doch einst Schriftsteller Peter Bichsel, als es um Bücher von Mario Simmel ging: «Hauptsache doch, dass die Leute lesen»! Und schön doch, dass regelmässig Lesungen und weitere kulturelle Veranstaltungen in diesem wunderbaren Bau stattfinden. Christoph Simon, Thomas Meyer, Barbara Geiser und andere sind bereits im Halbjahresprogramm aufgeführt. Wer mehr lesen will, als in den Büchergestellen in Spiez angeboten wird, dem steht die allmonatliche Sprechstunde zur Verfügung: Mitarbeiterinnen der Bibliothek zeigen, wie die E-Reader für die Nutzung der digitalen Ausleihe eingestellt werden können
Auf der Seite jedes Büchergestells wird auf einem Blatt erläutert, was im entsprechenden Gestell zu finden ist. Zwischen zwei Büchergestellen wurde eine gemütliche, mit modernem Mobiliar ausgestattete Lesenische eingerichtet. Tische mit Computern, ein Arbeitsbereich, in dem auch Zusammenkünfte stattfinden können, gehört ebenso zur schönen Lesehalle. Regelmässig werden im Rahmen von Ausstellungen an den Wänden Fotos oder Gemälde regionaler Künstlerinnen und Künstler gezeigt. Annemarie Gnägi, ehemalige Lehrerin und Leiterin einer Schulbibliothek ist gerade am Einräumen von Büchern, die am Vortag zurückgebracht wurden. Sie gehört zum Freiwilligenteam der Bibliothek. Die Regionalbibliothek Spiez ein schöner Ort, vom Architektonischen her dürften sich manche Bibliothekarinnen anderer Regional- oder Ortsbibliotheken einen ähnlich schönen Ort wünschen.
Regionalbibliothek Spiez
Sonnenfelsstrasse 1
3700 Spiez
T: 033 654 55 80
www.bibliothek-spiez.ch
Treffpunkt für jedes Alter
Heinz Egger
„Weisst du, wo die Bibliothek in Spiez liegt?”, fragte mich mein Mitreisender. „Nein, keine Ahnung, ich habe vergessen, danach zu suchen”, entgegnete ich, „aber das wird vom Bahnhof aus ausgeschildert sein.” Den zweiten Teil meiner Antwort meinte ich natürlich mit einem Augenzwinkern. Wir staunten daher nicht schlecht, dass tatsächlich gegenüber dem Ausgang aus der Perronunterführung auf der Seestrasse, eine himmelblaue Stele stand, die uns die Richtung wies. Weitere solche Stelen führten uns schnell ans Ziel. Am Hang hinten, am Hügel gegenüber dem Bahnhof steht das Haus der Bibliothek: dunkle Holzkonstruktion, im Winkel angeordnet, zweistöckig. Das Gebäude fügt sich mit seiner dunklen Farbe bestens ins Gelände ein.
Beim Näherkommen entdecke ich, dass die senkrechten Holzleisten Texte tragen. Einige sind wie für einen Tiefdruck eingefräst, andere stehen wie für einen Hochdruck vor. Es lohnt sich, diese Texte zu lesen. Sie könnten Erinnerungen wach rufen oder auch Anlass für die Suche nach dem Autor und dem Buch sein. „Oben ist es still” – ein wunderbares Buch von Gerbrand Bakker, das auch verfilmt worden ist. Es handelt von der Beziehung des Sohnes zum Vater und von der aufkeimenden Liebe zu einem Mann. Oder „Geld und Geist” – eines der Werke von Jeremias Gotthelf. Es sind auch Namen zu lesen wie Annie Leibowitz. „Signers Koffer” erinnert daran, dass es in der Bibliothek sicher auch Kunstbücher gibt. Mikado weist darauf hin, dass die Bibliothek und die Ludothek sich im gleichen Haus befinden. Ob die Bibliotheksangestellten diese Titel und Namen zusammengetragen haben? Sie hätten auch etwas beisteuern können, sagt Ursula Ramseier, Bibliotheksmitarbeiterin und Verantwortliche für die Sachbücher der Erwachsenen. Aber die Auswahl habe Susanne Dubs getroffen. Sie zeichnete verantwortlich für alles, was Design angehe. Ja, und sie habe sich auch an der Wand verewigt. Ihr Name steht rechts von der Eingangstür zusammen mit ihrem Wirkungsort Macolin, was hier etwas fremd wirkt, denn im deutschsprachigen Spiez würden die Leute wohl eher Magglingen sagen.
Seit über 50 Jahren gibt es eine Bibliothek in Spiez. 1967 wurde sie als „Freihandbibliothek Spiez” eröffnet. 1980 konnte sie beim Schulzentrum Längenstein ein eigenes Haus beziehen: einen Pavillon, der für etwa 15 Jahre halten sollte. Seit 1994 ist sie eine der 11 Regionalbibliotheken des Kantons Bern und ist für die Ämter Frutigen, Nieder- und Obersimmental und Saanen zuständig. Ab dem Jahr 2000 befasste sich ein Verein mit dem Thema Neubau und der Organisation von Anlässen, um Geld zusammenzubringen. Eine erste Volksabstimmung 2006 schickte das Projekt einer Bibliothek/Ludothek bachab. Erst das Projekt, an dem sich auch die Verwaltung beteiligte, wurde von der Bevölkerung 2012 gutgeheissen. Und bereits im Oktober 2014 konnten die neuen Räume fürs Publikum geöffnet werden. Sie seien wirklich froh gewesen, den langsam zerfallenden Pavillon zu verlassen, bei dem Efeu durch die Fenster gewachsen und das Arbeiten weder im Sommer noch im Winter angenehm gewesen sei, sagt Ursula Ramseier
Im ersten Stock hat sich ein Teil der Verwaltung der Gemeinde eingerichtet. Die grosszügigen Räume im Parterre belegen die Bibliothek, die Ludothek, die LesBar, eine Kaffee-Ecke mit Zeitungen und Zeitschriften, und ein Vortragsaal, der Podium genannt wird. Dieser kann für grosse Anlässe der Bibliothek auch noch zur Bibliothek hin geöffnet werden. Allerdings sei dieser Raum für sie nicht gratis. Auch sie müssten der Gemeinde etwas bezahlen, wenn sie ihn für Lesungen, Vorträge ((https://www.bibliothek-spiez.ch/veranstaltungen/agenda-2019/)) oder den „Lirum Larum Buchstart Treff” ((https://www.bibliothek-spiez.ch/teens-kids/lirum-larum-buchstart-treff/)) nutzen wollten, fügt Ursula Ramseier bei der Besichtigung des wunderbar hellen, mit dem vielen Holz sehr angenehmen Raums an.
Vom Eingang ins Gebäude liegt geradeaus die LesBar, nach rechts befindet sich die Ausleih- und Rücknahmetheke und die Ludothek. Hinter der Theke liegt das Reich der Kinderbücher. Ein grosser Tisch mit sechs Arbeitsplätzen trennt diesen Teil von den Gestellen der Erwachsenenliteratur.
Neun Gestelle sind es an der Zahl. Sie sind mannshoch, und trotzdem bleibt viel Luft und Weite in dem langen Raum. Viel Licht strömt durch die raumhohen Fenster. Dieses reflektieren die hell lasierten Holzstützen, die getäfelten Wände und die Decke. Alle Gestelle tragen einen hölzernen Würfel mit einem Buchstaben (E für Erwachsene, J für Jugendliche und K für Kinder)einer Nummer. Was in den Gestellen zu finden ist, geben hölzerne Tafeln bekannt, auf denen eine schwarz bedruckte Transparentfolien befestigt ist. Ein Oberbegriff, oft aus zwei Wörtern gebildet, gibt eine Ahnung vom Inhalt und darunter eine kurze Liste mit präziseren Schlagwörtern die nähere Umschreibung der angebotenen Bücher. Diese Hierarchie nutzt auch der elektronische Katalog. Bezeichnungen von Abteilungen, wie „Kult und quer” zeigen, dass Susanne Dubs nicht einfach eine 08-15-Bibliothek einrichten wollte.
Ganz hinten erweitert sich der Raum etwas. Dort stehen weisse Tische und Stühle, ein Sofa und weitere Sitzgelegenheiten. Hier finden Jugendliche ihre Lektüre. „Lesen ist cool” steht auf mehreren Gestellen. In diesem Teil der Bibliothek sind die Gestelle ein Tablar weniger hoch als bei den Erwachsenen. Und sie stehen auf Rollen, so dass Platz für Veranstaltungen geschaffen werden kann. Hier findet unter anderem die Skill-Börse statt, bei der Jugendliche für Jugendliche in Kursen weitergeben, was sie gut beherrschen. Auf einem Skillboard können Wünsche angebracht werden. Wer etwas anbieten will, erhält für die Planung und Durchführung Unterstützung durch das Bibliotheksteam.
Auch mehrere Ateliers im sogenannten „Makerspace” haben hier stattgefunden und werden noch stattfinden. Geräte und Material stammen von der Pädagogischen Hochschule Bern. Mit einem kleinen Unkostenbeitrag kann jedermann zwischen 10 und 99 Jahren mit modernsten Technologien Kontakt aufnehmen: 3-D-Druck, Virtual Reality, Hologramm, Robotics oder Trickfilm. Am Anfang hätten Studierende an der PH die Kurse geleitet, inzwischen würde erwartet, dass die Bibliothek sie selber anbiete. Das sei aber gar nicht so einfach, denn diese Technologien gehören nicht zum Fachwissen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, sagt Ursula Ramseier.
Die Bibliothek ist auf dem Weg in die Zukunft, das beweisen die Aktivitäten, um Publikum anzuziehen. Dazu gehören neben buchbezogenen Anlässen und Clubs für jedes Alter der Makerspace, die Skillbörse und auch Ausstellungen. Denn die Wandflächen eignen sich bestens, um Kunst und Illustrationen auszustellen. Die Bibliothek Spiez ist weit mehr als nur ein Ort des Buches. Es ist ein Treffpunkt für viele Interessen.