Tag Archives: Trogen

Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, Trogen

 

Modern aufbereitet

Michael Guggenheimer

Regelmässige Benutzer von Bibliotheken gelangen ins Schwärmen, wenn sie besonders schöne Lesesäle, spannende Präsentationen von Neuerwerbungen oder eine besonders gelungene Ordnung der Sachbereiche in den Freihandbereichen bestimmter Bibliotheken schildern. Betritt man die Kantonsbibliothek Ausserrhoden in Trogen, dann lösen der erste und auch der zweite Eindruck alles andere als euphorische Ausrufe aus. Der Lesesaal ein kleiner Raum, in der Mitte eine Tischkombination mit 8 Arbeitsplätzen, wenige Bücher zu appenzellischen Themen in den Büchergestellen, zwei Computer auf zwei weiteren Tischen. Der erste Eindruck ist ernüchternd. Abwarten heisst es in diesem Fall.

Dr. Heidi Eisenhut im Archiv

Warten auf Kantonsbibliothekarin Dr. Heidi Eisenhut. Zwei oder drei Fragen genügen und schon zeigt sich, dass die Kantonsbibliothek erst beim zweiten Hinschauen ihre schönen Räume und ihre besonderen Qualitäten offenbart. Und weil die Bibliotheksbestände in zwei historischen Häusern und in vergleichsweise kleinen Räumen untergebracht sind, gilt hier, dass jede Publikation, die im ausgezeichnet aufbereiteten digitalen Katalogsystem gefunden wird, von den Mitarbeitenden innerhalb weniger Minuten in den Lesesaal gebracht wird. Ohnehin ist die Kantonsbibliothek kein Ort der breiten Belletristik, keine allgemeine Bibliothek, an der man Bücher über Afrika oder Amerika, Bücher aus den Bereichen der Psychologie oder Medizin holt. Für Romane und für alle Sachbücher, die nicht von den beiden Appenzell handeln, begibt man sich mit Vorteil in eine der Gemeindebibliotheken im Kanton oder gleich in die nahe Kantonsbibliothek St.Gallen.

Die Kantonsbibliothek Trogen ist eine wissenschaftliche Bibliothek zu einem geographisch verorteten Thema, nämlich den beiden Kantonen Appenzell, untergebracht in zwei grossen barocken Häusern, die hier Paläste genannt werden, auch wenn der Ausdruck in einem Land, das keine Könige und Fürsten aufweist, gar etwas hoch gegriffen scheint. Fünfeckpalast heisst der Bau, in dem sich der erwähnte Lesesaal befindet. Und betritt man das Trogener Gemeindehaus am Landsgemeindeplatz, in dem sich weitere Räume der Bibliothek befinden, dann ist man gerne gewillt, den Ausdruck Palast angesichts der Schönheit der barocken Räume zu akzeptieren. Die Trogener Bibliothek kann man angesichts ihrer Bestände durchaus als den zentralen Gedächtnisort des Kantons Ausserrhoden bezeichnen, hier lagert das spezifisch appenzellische Wissen. Bloss etwa 15 Besucher zählt die Bibliothek pro Woche. Doch das heisst nicht viel bei einer Bibliothek, die über ihre Bestände im Netz vorbildlich informiert und Dokumente rege übers Netz per E-Mail verschickt.

Zahlreiche spannende Geschichten sind in den Räumen der Kantonsbibliothek gelagert und wissenschaftlich ausgehoben worden. So etwa jene der 1945 in Zürich gegründeten Psychosophischen Gesellschaft. Der Gründer des Vereins baute mit seinen Gefolgsleuten in Stein im Kanton Appenzell Ausserrhoden die seltsame Lebens- und Glaubensgemeinschaft «Abtei Thelema» auf. Sie betrieben eine Wetterstation, ein alchemistisches Labor, feierten gnostische Gottesdienste und führten ein Hotel und ein Archiv. Basierend auf der Religion Thelema des englischen Okkultisten Aleister Crowley arbeiteten alle an sich selbst und an Erlösungsfantasien. Der Alltag mit einem narzisstischen Oberhaupt war geprägt von Mühe und Arbeit, Gerüchten und Verleumdungen, Eifersucht und Machtgebaren. Die Archivbestände dieser Vereinigung befinden sich seit 2009 unter dem Namen «Collectio Magica et Occulta» in der Kantonsbibliothek und wurden von der wissenschaftlichen Archivarin Iris Blum ausgewertet, ihr Buch mit dem Titel „Mächtig geheim“ enthält Kurzbiografien und Texte zu Phänomenen rund um die Psychosophische Gesellschaft.

Ein anderes voluminöses Werk, dessen Erscheinen 2016 auch dank den Beständen der Biblothek möglich wurde, heisst „Ich wäre überall und nirgens. Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900“. Im wunderbaren barocken Sitzungssaal im Gemeindehaus standen alle die benötigten Werke während Monaten, die von einer kleinen Gruppe von Literaturwissenschaftlern bearbeietet wurden. Die Anthologie, welche deren Mitarbeiter gerne „Jahrhundertwek“ nennen, ist im Zeitraum von vier Jahren entstanden, sie versammelt Belletristik aller Gattungen, nebst literarischem Bildschaffen und  Feuilletonistischem. Das  in jeder Hinsicht gewichige Grosslesebuch vereinigt Appenzeller Schriftstellerinnen und Autoren wie Werner Bucher, Dorothee Elmiger, Werner Lutz, Helen Meier und viele andere mehr.

Wundersame Kollektionen in den beständen der Bibliothek: Ebenfalls in Trogen verwahrt ist der Nachlass des aus Deutschland stammenden Tätowierers Herbert Hoffmann, der dreissig Jahre lang in Heiden (AR) verbracht hat. Hoffmann besass zeitweise das einzige professionelle Tattoogeschäft in Hamburg, dem er den Namen Älteste Tätowierstube in Deutschland gab. Er war bemüht, Tätowierungen gesellschaftsfähig zu machen. Er sammelte alte Tattoo-Motivtafeln, tätowierte nicht nur, sondern fotografierte auch Tätowierte. Von 1950 bis in die 1970er Jahre legte er sich ein grosses Fotoarchiv mit tätowierten Menschen aus allerlei Gesellschaftsschichten zu. 2015 ist dank den Beständen in Trogen das Buch „Herbert Hoffmann. Tätowiert muss es sein“ erschienen. Es ist ein Album entstanden mit bebilderten Artikeln von vielen tätowierten Männern und Frauen aus Magazinen, mit Cartoons, auf denen Tattoos zu sehen sind, und mit Geschäftskarten von Tattoo-Studios. Die Seiten sind schön, die Artikel bewusst gruppiert, Hoffmann war ein Perfektionist, seine ebenmässige Handschrift zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk

Dass noch viel Material in der Ausserrhoder Bibliothek lagert, das gehoben, verarbeitet und herausgegeben werden könnte, zeigt ein Blick in das Buch „Zeitzeugnisse. Appenzeller Geschichten in Wort und Bild. «Zeitzeugnisse» entstand 2013 zum 500. Jahrestag der Aufnahme des Standes Appenzell in die Eidgenossenschaft. Und ebenso wie die Texte von „Ich wäre überall und nirgends“, die alle nach und nach nicht nur als Buch erhältlich, sondern auch im Netz abrufbar sind, sind sämtliche Texte der „Zeitzeugnisse“ im Netz zu finden. Genau da zeigt sich wieder der moderne Umgang der Bibliothek mit Wissen zur Region. Derzeit wird das vielfältige Werk des bekannten Rockmusikers Stefan Signer (Infra Steff) gesichtet. Und irgendwann wird der Vorlass von H.R.Fricker, des weltweit vernetzten Trogener Mailartisten und Gründers des Alpsteinmuseums ebenso wie der Nachlass von Josef Böni Gegenstand einer Publikation werden. Pfarrer Böni war der Mann, der die Idee des Kinderdorfs Pestalozzi dem Dorfgründer unterbreitet hat. An Material für spannende Publikationen mangelt es in Trogen nicht.

Kantonsbibliothek Ausserrhoden
Landsgemeindeplatz 1/7
9043 Trogen
T: 071 343 64 21
www.ar.ch

 

 

Die Schatztruhe öffnen

Heinz Egger

Wir haben ihn gefunden, den Fünfeckpalast. Aber wir mussten mehrere Leute fragen, bis wir vor der schweren Tür standen. Ein kleines metallenes Schild weist darauf hin, dass sich die Kantonsbibliothek hier befindet. Im Eingang steht auf dem gepflästerten Boden eine Skulptur der Solothurner Künstlerin Sonya Friedrich. Ein Fuchs steht in einem aus alten Fenstern und Fensterläden gebauten Haus. Eine Schlange schlängelt über den Sand. Das Werk ist „dem kleinen Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry gewidmet. Ja, schlaue Leute braucht es, die die Bibliothek finden und nutzen.

Lesesaal mit Arbeitsplätzen

Der Eingang zur Bibliothek befindet sich gleich links in der Eingangshalle. Nach der Türe steht man in einem kleinen Raum mit der Ausleihtheke. Sabeth Oertle Thoma emfpängt uns freundlich und zeigt uns den Lesesaal. Wir nehmen am grossen Tisch Platz und schauen uns um. Wo sind wir? In einer Bibliothek? Auf der Fensterseite sind drei Arbeitsplätze mit Computern eingerichtet. Für Recherchen? In der Mitte des Raums mit Tonnengewölbe steht ein schwerer Tisch mit acht Stühlen daran.

Beide Seiten des Gewölbes sind mit metallenen, schwarzen Wänden verschlossen – aus Brandschutzgründen, wie uns Frau Oertle Thoma erklärt. Sie ist für die Katalogisierung, die Ausleihe und Sekretariatsarbeiten zuständig. Sie spürt, dass wir etwas irritiert sind. Wir erfahren erst jetzt, dass die Kantonsbibliothek eine reine Archivbibliothek ist. Das liegt teilweise an ihrem Sammelauftrag: „Die Kantonsbibliothek von Appenzell Ausserrhoden ist die zentrale Sammel- und Archivstelle Appenzell-Ausserrhodischer Medien. Sie hat den gesetzlichen Auftrag, Bücher, Broschüren, Plakate, Postkarten, elektronische Datenträger und andere Medien, die in irgendeiner Form den Kanton Appenzell Ausserrhoden betreffen, zu sammeln, zu erschliessen, aufzubewahren und zur Verfügung zu stellen.“ (zitiert nach dem Profil auf ar.ch) Wer hier also Belletristik sucht, wird höchstens solche aus dem Appenzellerland finden.

Die Bibliothek veröffentlicht regelmässig selber Publikationen. 2008 entstand die Reihe „Kleine Schriften der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden“ als PDF-Dateien. Die „Appenzellischen Jahrbücher“ erscheinen seit 1854. Der gesamte Bestand ist digitalisiert und online abrufbar.

Bedeutende Sammlungen beherbergt die Kantonsbibliothek. Unter anderen findet sich hier in der „Collectio Magica et Occulta (CMO)“ das Archiv der Psychosophischen Gesellschaft. Iris Blum hat in ihrem Werk „Mächtig geheim, Einblicke in die Psychosophische Gesellschaft 1945 bis 2009“, das im November 2016 im Limmatverlag erschienen ist, dieses Archiv aufgearbeitet. Wer etwas aus dem Bestand der Bibliothek einsehen möchte, der bestellt das am besten von daheim aus. Die Website ar.ch bietet unter Verwaltung > Departement Bildung und Kultur > Amt für Kultur > Kantonsbibliothek > Recherche ein umfangreiches Angebot. Da sind die Kataloge der Bibliothek aufgeführt. Dies sind „Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Broschüren, AV-Medien, Karten und Bilder“, „Handschriften, Archive und Nachlässe“, „Kantonale Kunstsammlung“ und „Bestände der Kantonsbibliothek auf verschiedenen Online-Plattformen“. Online ist ein wichtiges Wort für die Kantonsbibliothek. Sie hat selber schon viele Schriften digitalisiert. So sind sieben Handschriften auf E-codices vorhanden. Auch das gesamte Kunstarchiv ist digital verfügbar.

Die Website hilft Recherchierenden mit zahlreichen Links zu anderen Katalogen und elektronischen Ablagen weiter. Es ist einfach, so Zugang zu einer Vielzahl von Quellen zu gewinnen. Dies schliesst nicht nur Bücher, sondern auch Audio und Video, Periodika, Nachschlagewerke, Wörterbücher, Karten, Bilder und Fachportale ein. Dass sich für Suchende auf der Website einer Bibliothek gleich so viele weiterführende Links befinden, ist aussergewöhnlich! Es ist eine wunderbare Hilfe.

Umzugsschachteln mit Aufschriften zur Verwendung

Und ja doch, es gibt im Lesesaal Bücher. Der weissen Wand entlang stehen Kisten mit Bildern und zwei „Bücherkisten“ – es sind Zügelboxen der Heilsarmee. Auf dem kleinen Gestell an der einen schwarzen Wand steht ebenfalls eine solche Box. Die Bibliothek hat 2014 ihre Bestände am Landsgemeindeplatz 1 und 7 vereint. Die Boxen haben sich damals sehr bewährt und dienen auch heute noch dazu, Bücher von a nach b zu bringen.

Im Büchergestell stehen ein paar Kostbarkeiten der Bibliothek. Es sind Faksimiles: Ein dunkelblaues, samten eingefasstes Bändchen mit Schliessspangen, beispielsweise. Es ist der „Flämische Kalender“ von Simon Bening, erschienen im Luzerner Faksimile-Verlag 1987. Dazu gehört auch ein Kommentarband. Unten im Gestell, wo ihr Gewicht den Regalbrettern nichts anhaben kann, reihen sich ein paar voluminöse, hell in Leder gebundene Faksimiles aneinander. Das dickste Buch enthält die „Eidgenössische Chronik“ von Wernher Schodoler. Dann Lexika, wie das „Lexikon für Theologie und Kirche“, das „Lexikon des Mittelalters“ oder das „Handbuch des deutschen Aberglaubens“.

Der Flämische Kalender von Simon Bening als Faksimlie

Auf einer Privatführung zeigt die Leiterin der Bibliothek, Heidi Eisenhut, was für wertvolle Bestände in den verschiedenen Räumen des Archivs lagern. Regelmässig finden kulturhistorische Führungen statt. Im vergangenen Jahr nahmen daran über 1000 Personen teil.