Textile und Texte
Michael Guggenheimer
Textil und St.Gallen. Stoffe und Stadt haben eine lange gemeinsame Geschichte, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Eine Hochblüte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Niedergang nach dem Ersten Weltkrieg und immer noch ein Begriffspaar. Das Modelabel AKRIS und der Name Jakob Schläpfer gehören zur erfolgreichen neuen Blüte der Textilbranche der Stadt. Und nicht zu vergessen die Architektur der Textilzeit: Prachtvolle Jahrhundertwendebauten mit Namen Washington, Einstein und Reichenbach, die Architektur der Unterstrasse, der Rosenberghang mit seinen Industriellenvillen und das 1886 erbaute Textilmuseum, der sogenannte „Palazzo Rosso“ an der Vadianstrasse.
Im ersten Stockwerk des Textilmuseums stehen die Türen der Textilbibliothek weit offen. Als erstes fallen einem die beiden schenkelähnlichen geschwungenen Treppenaufstiege auf, die in eine Galerie führen. Unten wie auf der Galerieebene Schränke durch deren Glastüren dicke Ordner und schwere Buchbände zu sehen sind. Eine elegante und dennoch zurückhaltende Architektur, die modern ist und gleichzeitig Zitate aus der Architektur des späten 19. Jahrhunderts aufweist. Architekt Robert Bamert hat hier Ende der 80er Jahre eine vornehme Note einbringen können. Bücherschränke, stehen hier, nicht Gestelle, das Holz in maseriertem Grüngrau, alle Schränke verschlossen und stets mit der diskreten Aufschrift „Bitte Schränke nicht öffnen“.
Zwei Bereiche weist die Textilbibliothek auf. Im ersten Raum mit seiner geschwungenen Treppenanlage befindet sich die Sammlungsabteilung, hier sind die wahren Schätze untergebracht. Die Spezialsammlung dieser Abteilung umfasst Hunderte von Folianten mit Stoffdruck-, Spitzen- und Stickereimustern von unschätzbarem Wert. Diese werden nur einem kleinen Kreis Interessierter zugängig gemacht. Das sind Fachleute, die bereit sind über die Mitgliedschaft im Museums-Club, für die Erschliessung dieser Inspirationsquelle namhafte Beiträge zu leisten.
Der zweite Bibliotheksraum ist konsequent in einer heutigen architektonischen Sprache gestaltet. Dessen Längsform wird durch zwei Galerien – leicht konvex geformt – und die hohe schmale Raumschicht in der Mitte noch besonders betont. Stahl, Glas und Holz sind hier die Materialien, die sich deutlich unterscheiden von den Formelementen aus der Jugendstilzeit im ersten Raum. Hier befindet sich die Freihandbibliothek, deren Bücher aus den Fachgebieten Textil, Mode, Design, Kunst und verwandten Gebieten man zur Hand nehmen und auch ausleihen darf. Die Schätze im ersten Raum allerdings dürfen nur in der Bibliothek konsultiert werden. Hier handelt es sich um eine Art Tresor der textilen Kunstgeschichte der Hochblüte des Textilzeitalters der Ostschweiz: 2’000 Musterbücher mit Textilmustern Schweizer Firmen, über 2 Millionen Originale, welche die Maschinenstickerei des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts dokumentieren, Musterbücher mit Textildruck, Weberei, Strohgeflechten, Klöppelspitzen, Posamente, Tapeten sowie Entwürfen ergänzt durch tausende von Modefotografien gehören zur Schatzkammer des Hauses. Es sind dicke, manchmal mehrere Kilo schwere Folianten, die eigens für Textilfirmen hergestellt wurden.
1290 Musterbücher alleine stammen aus der Sammlung des ehemaligen Stickereiunternehmens Grauer in Degersheim. Von der Firma Beckmann im deutschen Krefeld, stammen etwa 10 000 Originalentwürfe für Druck und Weberei aus den Jahren 1905 bis 1953. Rund 5000 Modefotografien aus der Zeit 1922 bis 1995 zeigen Modelle mit Ostschweizer Maschinenstickereien. Die etwa 5 200 Modezeichnungen aus dem Nachlass von Walter Niggli spiegeln die Stile der bekannten Couturiers von 1929 bis 1986. Von der Konfektionsfirma Brandeis in Zürich kommen die 1100 kolorierten Originalzeichnungen, meist mit Stoffmustern, der Winter- und Sommerkollektionen von 1943 bis 1973. Die Musterbücher bieten Anschauungsmaterial für Fachleute im textilen und gestalterischen Bereich, sie stellen einen inspirierenden Ideenpool für Designer dar. Kein Wunder, dass Textil- und Modeentwerfer von heute sich gerne in den Schätzen der Bibliothek umschauen wollen. Doch nicht jeder kann und darf das: Fotografieren, Kopieren und Abreiben der Originale ist nicht gestattet. Erst die Mitgliedschaft im Museumsclub der Textilindustrie erlaubt die Nutzung der Spezialsammlungen.
Textilbibliothek St.Gallen
Vadianstrasse 2
9000 St.Gallen
T: 071 228 00 10
www.textilmuseum.ch
Kein Foto!
Heinz Egger
Auf dem Fensterbrett liegen zwei: Der Rücken ist oben und unten mit hellbraunem Leder verstärkt, sonst bedeckt ein strapazierfähiger, moosig-grüner Stoff das Buch. Eine Oberkante des Deckels ist trotzdem vom vielen Gebrauch aufgescheuert. Die Bücher sind mehrere Kilogramm schwer, messen wohl 60 auf 40 Zentimeter und sind gewiss 10 Zentimeter dick. – Man soll sie nicht einfach von der ersten Seite her aufschlagen. Die spezielle Bindung für solche schweren Bücher verlangt, dass man sie auf den Rücken dreht und irgendwo in der Mitte aufschlägt. Dafür liegt dann das Buch ganz flach vor einem. Zu lesen gibt es wenig – nur die eingestempelte Nummer des Feldes, handschriftliche, mit Tinte geschriebene Angaben, beispielsweise im Feld 11103: Baer, 90, RVJ, 5525, Porfila. Und dazwischen mit Bleistift 4.30. Letzteres dürfte der Preis sein, Porfila der Name des Stoffs, Baer der Hersteller. Dafür gibt es umso mehr zu bestaunen. Wenige Quadratzentimeter grosse Stoffmuster sind darin aufgereiht. Ein handschriftlicher Eintrag oben an der Seite weist auf das Jahr hin: 1939.
Die beiden Bücher sind neu eingegangen. Sie stammen von einem Stoffhändler aus dem Bernischen. Weil einige Wollstoffe kleine Löcher aufweisen, mussten die Bücher für Tage in die Gefriertruhe, damit jedes Leben abgetötet wird. Sie sind quasi zum Auftauen aufgelegt. Und nur deshalb können wir sie anschauen. Die Bibliothekarin öffnet sie für uns mit blossen Händen, was seit Neuem eigentlich nicht mehr geschehen dürfte, wie sie uns sagt.
In den Vitrinen in der zweistöckigen Bibliothek stehen Dutzende solcher Bände. Die meisten sind mit schwarzem Stoff überzogen und tragen weisse Papierschilder: Wiener Muster 1866, Französische Druckmuster 1868, Mülhauser Druckmuster 1894, Druckmuster (Papier) 1870-1875, Zeichnungen für Handmaschinenstickereien 1854-1855, Stickereien Kragen 1900-1910. In Karton-Archivschachteln lagern Modezeichnungen und -fotografien.
Immer wieder steht auf den Schränken, man solle sie nicht öffnen. Die Buchherausgabe erledigt die Bibliothekarin. Und nur wer Mitglied ist, darf Einsicht nehmen. Fotografieren ist verboten. Noch heute werden die Designs gehütet wie ein Schatz. Selbst Designer aus Japan kommen, um die Muster anzuschauen. Gegen viel Geld dürfen sie eine beschränkte Anzahl Stunden die Wunder der Schweizer Textilkunst betrachten und nur abzeichnen.
Auf einem langen Korpus sind mehrere Musterbücher offen aufgelegt, in denen Besucherinnen und Besucher auch blättern dürfen. Auf einem klebt auf der Innenseite des Deckels ein Schild: Papeterie, Imprimerie M. Ferlat & Cie, Rue Etienne Marcel, Paris. Il suffit de rappeler ce numéro pour avoir un registre semblable. Die Nummer lautet 15819. Die Telefonnummer der Zentrale 14-39. Daneben liegt ein unscheinbares Buch, vielleicht so gross wie ein Schulheft, aber mit Buchdicke, das mit grünlichem Marmorpapier eingeschlagen ist. Der Buchblock besteht aus Transparentpapier. Auf jedem Blatt findet sich ein Stickmuster – gezeichnet mit Bleistift! Unglaublich feine und genaue Arbeiten sind es!
Es ist sehr ruhig in der grosszügig gestalteten Bibliothek. Zahllose Halogenlämpchen leuchten den hohen Raum taghell aus. Auch im zweiten, ebenfalls zweistöckigen Raum mit der Freihandbibliothek ist es still. Dort findet sich alles, was mit der Herstellung und Verarbeitung von Stoff, mit Design von Kleidern, Schuhen und Hüten, aber auch mit Kunst und Skulptur zu tun hat. Selten findet man auf so engem Raum diese Breite vom Buch übers Häkeln bis zur Sammlung von Schriften, vom Buch über Batik bis zu Chanel und Dior.
Schön! Dies ist ein unerhörter Kulturschätze! Über Eure Besuche. Lerne ich was!
Gruss aus Nederland 🙂
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