Übersetzerhaus Looren, Wernetshausen

Ein Haus – fünf Bibliotheken

Michael Guggenheimer

Bibliotheken befinden sich eigentlich immer im Zentrum einer Ortschaft. Und sie sind in der Regel nicht rund um die Uhr zugänglich. Im vorliegenden Fall ist das anders. Hier können die Benützer zu jeder Nacht- und Tageszeit die Bibliotheksräume betreten. Und anders als üblich liegt dieser Buchort wirklich nicht im Zentrum einer Ortschaft. Blickt man nämlich aus dem Haus hinaus, so sieht man in der Ferne die Alpen, man erblickt einen Bauernhof und auf einer Wiese unterhalb des Hauses weiden im Sommer Kühe. Man befindet in der Schweiz auf dem Land und keiner der Bibliotheksbenützer spricht Schweizerdeutsch. Und doch ist ein gewichtiger Teil der Bibliothek mit Schweizer Literatur und mit Büchern über die Schweiz bestückt.

Besagtes Haus ist das Übersetzerhaus Looren, es befindet sich am Rande des Dorfes Wernetshausen. Zürich ist mit Bus und Bahn in knapp 50 Minuten erreichbar. Aber die meisten Gäste des Hauses, die sich hier zwischen zehn Tagen und einem Monat aufhalten, suchen die Stadt eher selten auf. Sie sind hierher gekommen, um zu arbeiten. Und sie geniessen die Ruhe und Abgeschiedenheit. Es sind literarische Übersetzer aus der ganzen Welt, die sich hier zurückgezogen haben. Und sie befinden sich in ganz unterschiedlichen Phasen ihrer Arbeit. Manche beginnen hier eine Übersetzung, andere stecken mitten in der Arbeit und wiederum andere schliessen sie ab. Bis zu zwölf Personen können sich im Haus ganz ihrem Übersetzungsprojekt widmen und sich gleichzeitig mit Kolleginnen und Kollegen austauschen. Alle Sprachkombinationen sind möglich und willkommen.

Seit knapp elf Jahren besteht das einzige Übersetzerhaus der Schweiz. Und vor kurzem konnte der tausendste Aufenthalt eines übersetzenden Gastes mit einer kleinen Feier begangen werden. Claudia Cabrera aus Mexiko-City war der tausendste Gast und sie übersetzte hier aus dem Deutschen ins Spanische mehrere Kapitel aus Arnold Zweigs „Das Beil von Wandsbek“. Das Buch ist ein tausend Seiten dicker antifaschistischer Roman aus den 30er Jahren, der seinerzeit zu allererst in einer hebräischen Version erschienen war, weil kein deutscher Verlag sich damals für eine Herausgabe finden liess.

Lebenszentrum in der Looren: der Esstisch

Zentrale Treffpunkte der im Haus weilenden Übersetzer in Looren ist ein grosser Esstisch sowie eine geräumige Küche, wo man sich in den Arbeitspausen bei einem Kaffee oder beim Zubereiten der Mahlzeiten aufhält. An einem Abend pro Woche findet ein gemeinsames Essen statt. Gearbeitet wird in den einzelnen Gästezimmern. Und immer wieder sind die Übersetzerinnen und Übersetzer vor einem der Büchergestelle im Haus anzutreffen. Fünf Bibliotheksbereiche weist das Übersetzerhaus auf. Da befindet im sogenannten Seminarraum eine reich ausgestattete Bibliothek mit Wörterbüchern und Lexika in zahlreichen Sprachen, zum Teil in unerwarteten Kombinationen wie Arabisch-Bosnisch, Vietnamesisch-Arabisch, Französisch-Lettisch, Hebräisch-Spanisch. Man wandert diesen Gestellen entlang und fragt sich, an wie vielen anderen Orten in der Schweiz Spanisch-Dänische Wörterbücher, Deutsch-Katalanische , Französisch-Dänische stehen. Und neben den Bändern aus den Häusern Duden, Langenscheidt, Pons und Larousse stehen hier noch ein Deutschluxemburgisches Wörterbuch, das Lexicon Romantsch, ein Wiener Dialektlexikon, das Lessico dialettale della Svizzera Italiana oder das Neue Baseldeutsch Wörterbuch.

In einer Compactusanlage untergebracht ist eine zweite Bibliothek, es sind die Fachlexika und Sachliteratur, die Übersetzer benötigen. Kommen in einem Roman, in dem etwa eine Schusterwerkstatt in Kairo beschrieben wird, Fachaudrücke aus dem Bereich der Schumacher vor, sind auch Übersetzer auf zusätzliche erweiternde Informationsträger angewiesen, wollen sie einen Text so übersetzen, dass er auch wirklich korrekt ist. Was eine Schuhmacherraspel ist und wofür man eine Revolverlochzange benutzt, können Fragen sein, die ein Übersetzer lösen muss. Ein weiterer, grosszügig ausgestatteter Bibliotheksbereich im Haus gilt den vier Literaturen der Schweiz mit Schwerpunkt zeitgenössische Literatur. So viele Bücher umfasst dieser Bibliotheksteil, dass die Eingangshalle um eine Galerie mit Büchergestellen erweitert werden musste. Einen ganz besonderen Teil der Bibliothek bildet die „Sammlung Looren“ bestehend aus Büchern, welche von den Gästen übersetzt wurden. „Manchmal mache ich einen Quiz mit mir selber“, sagt Gabriela Stöckli, Leiterin des Übersetzerhauses. „Ich ziehe ein Buch in einer mir nicht vertrauten Sprache heraus, schaue das Cover an und überlege mir, wie das Buch wohl im Original heissen könnte“. Den kleinsten Bücherbestand bildet die „Sammlung Züst“, bestehend aus einer Auswahl der Werke, welche im Albert Züst Verlag erschienen sind. Verleger Züst hatte einst im Haus gelebt. Seiner Familie ist zu verdanken, dass das Übersetzerhaus hier eingerichtet wurde.

Bibliothek mit deutschen und Schweizer Autoren im Wohnraum

Alle fünf Bibliotheksteile stehen den Gastübersetzern während 24 Stunden zur freien Verfügung. Alle Bücher können zum Arbeiten mit aufs Zimmer genommen werden. Nicht selten ist noch ein Übersetzer um Mitternacht im Seminarraum beim Konsultieren eines Wörterbuchs anzutreffen. Die Übersetzer, die in Looren arbeiten, beschäftigen sich nicht nur mit Schweizer Literatur. In Wernetshausen wird Literatur aus der ganzen Welt übersetzt, selbstverständlich auch aus Schweizer Literatur. Claudia Cabrera zum Beispiel ist über ihre Beschäftigung mit den Büchern von Hansjörg Schertenleib auf Looren aufmerksam geworden. So sehr hat sich das Übersetzerhaus Looren in Fachkreisen herumgesprochen, dass alle zehn Zimmer praktisch durchgehend belegt sind. Wer hier arbeiten will, muss einen Verlags- oder einen Lizenzvertrag für das zu übersetzende Werk vorweisen können. Für die Offenheit von Looren spricht, dass hier auch Übersetzer willkommen sind, die sich nicht mit einem Buch aus der Schweiz beschäftigen, die aber in Looren Kontakt finden zur Schweiz und zu ihren Literaturen.

Übrigens: Die zahlreichen Wörterbücher und Enzyklopädien des Übersetzerhauses stehen auf Anfrage auch Interessenten aus der Region zur Verfügung. Wer sie nutzen will, kann sich telefonisch oder per Mail mit Looren in Verbinddung setzen. Arbeitsplätze mit Internetanschluss stehen auch ihnen zur Verfügung.

(Im Jahr 2018 kamen die Gäste aus 33 Ländern, sie arbeiteten an 105 Übersetzungsprojekten. 70 % der Gäste waren weiblich. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer betrug 20 Tage. Die jüngste Besucherin war 26 Jahre alt, der älteste Besucher 79).

Übersetzerhaus Looren
Looren 1
8342 Wernetshausen
T: +41 (0)43 843 12 43
www.looren.net

Spanish version of the text above

„Weight and Wisdom“

Heinz Egger

Claudia Cabrera, 1000. Uebersetzerin in der Looren

Das Lachen ist verstummt. Die vier Übersetzerinnen aus Mexiko und Brasilien sind nach vier Wochen Aufenthalt im Übersetzerhaus wieder in ihre Heimat zurückgereist. Sie hatten eine gute Zeit zusammen. Unter ihnen war auch die 1000. Übersetzerin, die in der Looren bei Wernetshausen oberhalb von Hinwil gearbeitet hat. Claudia Cabrera kommt aus Mexiko-Stadt. Sie weilte zum dritten Mal in der Looren. Das ist ein kleines Fest mit Apéro, kleinem Geschenk – natürlich ein Buch -, Blumen und einem gemeinsamen Raclette-Essen wert. Alle Gäste des Hauses sind zu ihrer Ehrung eingeladen.

Und sie ist stolz, nein, nicht dass sie die 1000. Übersetzerin ist, das war einfach ein glücklicher Zufall, sondern dass sie ihr dickes Buch hier fertig übersetzen konnte. Dank der Looren-Stipendien für lateinamerikanische Übersetzer, verbringt sie hier einen Monat zusammen mit drei weiteren Übersetzerinnen aus Lateinamerika. Sie kanten sich vorher nicht persönlich. Sie hatten es gut zusammen. Oft sind sie im grossen Wohnraum in den bequemen Sesseln an der Fensterfront zusammengesessen und haben übersetzt. Sicher haben sie die grandiose Aussicht ins Tal hinaus mit dem weit unten blinkenden Zürichsee genossen. Oh, sicher, sagen sie, hätten sie einander unterbrochen, um beispielsweise einen passenden Ausdruck zu suchen oder um ein Wort zu erfragen. Und doch hätten sie sehr gute Fortschritte in ihren Übersetzungen gemacht. Natürlich geschah auch viel in ihren Zimmern. Dort herrscht Ruhe. Sie haben dort neben Bett und Kasten einen Schreibtisch mit Internetanschluss und ein Telefon in ihrem Zimmer.

Insgesamt gibt es zehn Gästezimmer. Zwei davon sind Doppelzimmer. Allerdings dürfen nur zwei Personen dort einziehen, die beide übersetzen. Die Hürden, in der Looren unterzukommen, sind recht hoch. Jeder Gast muss einen Vertrag mit einem Verlag vorweisen. Wenn er zusätzlich Geldmittel erhalten soll, dann muss er auch einen Lizenzvertrag beibringen. Also ein Dokument, das beweist, dass jemand die Lizenzrechte an der Übersetzung gekauft hat. Die Looren ist gut ausgelastet. Die Gäste bleiben zwischen einer und 12 Wochen. Die meisten sind einen Monat hier. Die Übersetzerinnen und Übersetzer kommen aus verschiedensten Ländern zwischen Skandinavien und Afrika und zwischen Japan und Amerika. Einzig aus Australien ist noch nie jemand in der Looren eingezogen. Auf einer Karte an der Wand im Treppenhaus zeigen Stecknadeln, aus welchen Ländern schon Gäste da waren.

Bibliothek der Schweizer Autoren in allen Landessprachen auf zwei Etagen

Im grosszügigen Haus stehen den Gästen fünf Bibliotheken zur Verfügung. Die erste befindet sich gleich im Eingangsbereich. Sie erstreckt sich über die linke Wand des Treppenhauses und über eine Galerie. Alles Schweizer Autoren in allen Landessprachen, beispielsweise Cla Biert und Leta Semadeni auf Romanisch, Yves Laplace auf Französisch, Andrea Fazoli auf Italienisch oder Lukas Bärfuss auf Deutsch. Ein weiterer Teil davon befindet sich im Wohnraum, dort mit Büchern auf Deutsch.

Uebersetzte Bücher, an denen in der Looren gearbeitet wurde

In der Wand beim Eingang stehen in zwei Gestellen die meisten im Druck erschienenen Übersetzungen, die Sammlung Looren. Es sind nicht 1000 in dieser Bibliothek. Einige Übersetzungen sind nicht erschienen und zum Teil haben die Übersetzer und Übersetzerinnen kein Exemplar gesandt. Man staunt über die Werks- und Sprachenvielfalt, beispielsweise findet man Hermann Hesses Glasperlenspiel auf Albanisch, Franz Hohlers Erzählungen auf Hindu.

Die dritte Bibliothek weist eine ähnliche Vielfalt auf. Im Untergeschoss stehen die Dictionnaires. Es sind unglaublich viele Sprachen, beispielsweise Polnisch – Französisch, Farsi – Englisch und Französisch, Deutsch – Koreanisch, Hindu – Englisch, Isländisch – Italienisch, Jiddisch – Französisch. Der Bestand wächst dauernd. Eben sind drei Pakete mit Wörterbüchern aus Rumänien eingetroffen. Ebenfalls im Untergeschoss lagern in der vierten Bibliothek, die in zwei Compacta-Gestellen eingelagert ist, viele Sachbücher. Sie liegen grösstenteils auf Deutsch, aber auch Französisch und Englisch vor.

Schliesslich stehen als fünfte Bibliothek im Wohnraum eine Anzahl Bände aus dem Verlag Albert Züst. Das Haus ist im wahrsten Sinne ein Haus der Bücher. Die Bestände wachsen stetig, so dass immer Platzmangel herrscht. Bereits sind Architekten daran, Erweiterungen der Buchablagen zu planen.

Eine Landessprache, Englisch oder Russisch sollte jeder Gast beherrschen, damit die Leitung der Looren mit ihn, aber auch die Gäste untereinander kommunizieren können. Trotzdem, kommt es hin und wieder zu einer Patt-Situation. Eine solche erlebte auch Claudia Cabrera bei ihrem ersten Besuch in der Looren. Es habe keine gemeinsame Sprache gegeben. Sie spreche Spanisch, Deutsch und Englisch, andere Gäste aber nur Französisch oder Russisch.

Dieses Problem gibt es am Fest zu Ehren von Claudia Cabrera nicht. Alle verstehen und sprechen Englisch. Es geht hoch zu und her. Die Latinas sind in ihrem Element. Temperamentvoll erzählen sie, was sie erlebt haben. Es war für alle eine gute Zeit. Sie suchen nach einem zusammenfassenden Titel für ihren Aufenthalt. Da fallen beispielsweise „Gedicht und Gewicht“ oder „Weight and Wisdom“. Gewicht, so fürchten alle, haben sie zugelegt. Dies schreiben sie der Küche zu. Normalerweise sind sie Selbstverpflegerinnen. Vielleicht haben sie etwas ausprobiert, was unter dem Fenster des Esszimmers aufliegt: Kochbücher, Zeitschriften mit Rezepten. Wöchentlich einmal hat sie der Hausmeister Macro Rüegg bekocht. Schweizerisches hat er aufgetischt, aber mit Hilfe der Gäste auch Ausländisches. Es muss immer himmlisch geschmeckt haben.

Spanish version of the text above

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