Feierlichkeit für das Buch
Michael Guggenheimer
Zwolle, Hauptort der niederländischen Provinz Overijsel. 125 000 Einwohner. Inmitten der Stadt die zweischiffige gotische Kirche De Broeren, Brüderkirche des Dominikanerordens. Knappe 120 Jahre nach der Einweihung wird das Kloster im Jahr 1580 aufgehoben, die Kirche aber bleibt und dient fortan ab 1640 als protestantisches Gotteshaus. Eine prächtige Orgel wird mehrfach restauriert und ist noch heute bespielbar. 1982 findet der letzte Gottesdienst statt, die Kirche wird geschlossen und dient fortan als Ausstellungsort und Eventlocation.
Bis der umtriebige Buchhändler und Drucker Wim Waanders eine Idee hat, die er den Behörden ab 2007 mehrfach unterbreitet: Er will seine traditionsreiche Buchhandlung vergrössern, sie in der Kirche einrichten und die frühere Klosterkirche auf diese Weise neu beleben. Doch die Mühlen der Behörden mahlen langsam. Das im Jahr 1836 gegründete Unternehmen zieht erst im Juli 2013 mit Büchern ins Kirchengebäude ein, das von Jos Burger and Wouter Keijzer vom Büro BK.Architecten aus Utrecht neu interpretiert wurde und fortan „Waanders in de Broeren“ heisst.
Buchhändler Waanders beauftragte die Architekten die Stellflächen in der ehemaligen Kirche um 600 Quadratmeter zu erweitern. Ihm und den beiden Architekten ist zu verdanken, dass der Charakter des Gebäudes als Kirche erhalten bleibt. Sie fügen dem Bau im Seitenschiff drei Galerien bei, die als Verkaufsflächen dienen, ohne das Hauptschiff baulich zu verändern. Drei Balkone gewissermassen, die jederzeit bei einer Rückführung des Gebäudes als Sakralraum wieder entfernt werden könnten. Was bleibt: „Boekwinkel Waanders“ weist stolze 1000 m² Verkaufsfläche auf, zudem 200 m² Café-Restaurantbereich sowie weitere 200 m² Ausstellungsraum, Bürofläche, Küche und Lagerräume.
Was beim Besuch von Waanders in der Broeren auffällt: ein weiss getünchter heller, grosser Kirchenraum mit einer ornamental bemalten Decke. Zwei Fanfaren blasende Engel am Orgelprospekt, eine lange typisch niederländische Leestafel im Cafébereich, bestückt mit jenen Lampen, die man von niederländischen Kirchen kennt und die in den Kirchenbildern von Pieter Jansz. Saenredam aus dem 17. Jahrhundert immer wieder zu sehen sind. Bücher in den Regalen an den Seitenwänden der 60 Meter langen Längsachse der Kirche sowie auf einer Empore auf der einen Seite des breiteren Kirchenschiffs und auf den drei Bücherbalkonen im engeren Kirchenschiff. Die Buchhandlung Dominicanen in Maastricht fällt einem ein sowie die Landesbibliothek in Bregenz, auch sie beide in ehemaligen Klosterkirchen untergebracht. In Maastricht haben die Architekten eine Art schweres schwarzes Bücherschiff überdeutlich, ja fast brutal, in den Raum gestellt, in Zwolle sind die Architekten weitaus subtiler vorgegangen. Was diesen drei Bücherkirchen aber gemein ist: die Weite, die Höhe, eine Art Feierlichkeit für das Buch. Und alle drei sind Zeugen dafür, dass man aus Kirchen etwas Neues schaffen kann.
Einzelne Bereiche der drei Balkonstockwerke bei Waanders in de Broeren tragen Bezeichnungen wie „Lekker binnen“, „Lust voor het oor“, „Kijk nou toch“, was so viel heisst, wie „Schau mal hin“, „Pen en papier“, „Uit de kunst“, „Te Gast“ und „Willen weten“ oder „Wissen wollen“. Man ahnt schon: „Lust voor het oor“ ist der gut bestückte Musikbereich mit den CD, „Pen en papier“ ist der Bereich einer schönen Papeterie und Schreibwarenhandlung. Waanders versteht das Kulturgut Buch breit, Geschenke rund ums Buch gehören zum sogenannten Non-Book-Bereich. Das Mobiliar im grossen Kirchenschiff weist Räder auf und kann jederzeit bei grossen Veranstaltungen verschoben werden. Der Treppenaufgang zu den drei Balkonen sieht aus wie jenes in alten Kaufhäusern aus der Gründerzeit in Deutschland oder Frankreich. Man steigt hinauf und kann an Schauwänden Pausen einlegen und Bücher und andere Objekte betrachten. Bei den Kochbüchern zum Beispiel Konfitürengläser, Gläser mit Essigfrüchten, Ketchupvarianten, Gewürzdöschen und Cookies. Unter der Orgel finden 2 bis 3 Mal pro Woche Veranstaltungen statt.
Ein schöner Ort, diese grosszügig angelegte Buchhandlung in einem Raum, der ursprünglich für religiöse Zwecke konzipiert war. Waanders bietet breite Auswahl an Büchern, nicht so breit allerdings wie diejenige bei Dominicanen in Maastricht. Die Hauptstadt der Provinz Limburg liegt nahe der belgischen und der deutschen Grenze, Maastricht hat eine grosse Uni mit vielen ausländischen Studenten, ist zudem ein touristischer Ort mit vielen Tagestouristen aus Deutschland und Belgien. Daher dort wohl die grössere Auswahl an deutschsprachigen, französischen und englischen Büchern als in der eher provinziellen Stadt Zwolle. Waanders hat aber im Gegensatz zu Dominicanen die Jahre seit der Gründung ohne grosse Klippen geschafft, während die Bücherkirche in Maastricht wenige Jahre nach ihrer Eröffnung bereits einen Besitzerwechsel erlebte. Und dennoch ist Waanders ein wichtiger Ort, ein Ort, der sich gewiss weiterentwickeln wird. Während „Randstad Holland“, der grosse Agglomerationsgürtel zwischen Rotterdam, Amsterdam und Utrecht, sich immer mehr geographisch ausweitet, wird Zwolle seit einigen Jahren immer mehr zum Wohnort von Pendlern, die in Amsterdam, Den Haag oder Utrecht keine Wohnung finden. Zwolle wächst. Und mit dem Wachstum entstehen moderne Kulturhäuser. So das Museum „De Fundatie“ und das Theater „De Spiegel“. Zwolle, eine eher ruhige Stadt, macht sich. Und „Waanders in der Broeren“ ist ein wichtiger Eckpunkt dieser Entwicklung.
Waanders in de Broeren
Achter de Broeren 1-3
8011 VA Zwolle, Niederlande
T: +31 38 4215392
www.waandersindebroeren.nl
Haus für das Buch
Heinz Egger
„Waanders In de Broeren is veel meer dan een boekwinkel“, steht auf der Website der Buchhandlung. In der Tat, der Ort, eine ehemalige Kirche, bietet viel mehr. Der Eingang zur Buchhandlung findet sich an der Seite der Kirche. Das Portal mit Spitzbogen ist klein, aber innen reisst es einen förmlich in die Höhe. Hell strahlt der Innenraum. Er ist weiss gestrichen, die Kolonnaden und die Kreuzrippen an der fernen Decke leuchten hellbeige. Zwischen den Rippen finden sich zarte Malereien und Wappen.
Die Kirche hat eine lange Geschichte. Deren Kurzfassung gleich neben dem Eingang auf einer dunklen Steintafel eingemeisselt ist. 1511 wurde die gotische Kirche eingeweiht. Sie steht angebaut an das Dominikanerkloster, das 1466 gegründet wurde. Wegen der Reformation verliessen die Mönche das Kloster und die Kirche wurde reformiert. Weitere Informationen stehen auf Tafeln im Durchgang zum Kreuzgang des Klosters: Im Zuge des Bildersturms wurde die Kirche innen weiss gestrichen. Die Kunstwerke an den Wänden und Decken sollten mehr als 300 Jahre verborgen bleiben. 1821 erhielt sie die heute noch vorhandene und gespielte Scheuer-Orgel. 1982 fand der letzte Gottesdienst statt, dann stand das Gebäude jahrelang leer, hin und wieder fanden darin Feste, Lesungen oder Ausstellungen statt. Ab 2007 plante Wim Waanders seine Buchhandlung „Waanders In de Broeren“. 2013 öffnete die Buchhandlung ihre Tore. Eine Inschrift auf den Fenstern im Chor sagt: 1466 – 2013 Huis van het Woord, heuis voor het woord. Durch den Einzug der Buchhandlung wurde aus dem Haus für das Wort (Gottes) ein Haus für das Wort.
Die Umgestaltung der Kirche in eine Buchhandlung wurde durch die „BK. Architecten“ und ein Anbau durch das „Atelier 19“ geplant. So ist denn ein Besuch nicht nur aus religionshistorischer Sicht, sondern auch für den Architekturinteressierten wertvoll. Im Gegensatz zum Boekhandel Dominicanen im niederländischen Maastricht, wo das Mittelschiff in einem grossen, schwarzen Einbau den grössten Teil der Buchhandlung enthält, ist die Weite in der Broeren-Kirche in Zwolle unverstellt. Natürlich gibt es ein Angebot im Hauptschiff, dieses lagert aber auf rollbaren Tischen. Denn in der zweischiffigen Kirche – und das ist ein weiterer Grund für einen Besuch – werden weiterhin auch Konzerte und Lesungen angeboten. Der Platz für die Bestuhlung ist mit den verschiebbaren Gestellen sehr schnell bereitgestellt.
Vom Eingang nach rechts befindet sich der Chor. Darin bietet eine Brasserie Speisen und Getränke an, die auch ohne Buchkauf genossen werden können. Wo früher wohl das Chorgitter stand, ist hoch über dem Gast eine Stange, auf der die Lettern mit dem Namen der Buchhandlung aufgeschweisst sind: Waanders In de Broeren. Für das Menü liegt eine eigene Zeitung auf. Sie heisst schlicht „Menukrant“. Im Untertitel steht „Empfindungen für Auge, Ohr und Geschmack“. Natürlich bietet Waanders darin auch die wichtigen Neuerscheinungen als Buch, Hörbuch oder Musik-CD und Film-DVD in der Zeitung an. Die Zeitung darf jedermann gratis mitnehmen. Die Brasserie ist einen Besuch wert. An der Wand stehen auf einer schwarzen Tafel die Tagesspezialitäten. Sie lassen einem das Wasser im Mund zusammenlaufen… Der Chor erhält viel Tageslicht von fünf hohen Spitzbogenfenstern. Das mittlere ist mit farbigem Glas gestaltet und wirft ein sehr angenehmes Licht in den Raum.
Nach links vom Eingang springt sofort die grosse Orgel ins Auge. Sie steht auf einer hölzernen Empore, die von vier Säulen getragen wird. Dunkles, glänzendes Holz und golden leuchtende Verzierungen um die sichtbaren Pfeifen weisen darauf hin, dass das Instrument kürzlich revidiert worden ist. Der Erbauer der Orgel ist am Orgelprospekt in Grossbuchstaben angeschrieben: J.C. Scheúër fécit. Die Akzente helfen dem niederländisch Sprecher, den deutschen Namen richtig auszusprechen.
Die Bücherschätze befinden sich zum grössten Teil in einem weissen Einbau im schlanken Seitenschiff und gegenüber an der Wand des Hauptschiffs in einem zweistöckigen, schlanken Einbau. Der Einbau im Seitenschiff reicht über die ganze Länge des Schiffs und ist drei Stockwerke hoch. Die beiden unteren Etagen ragen bis zwischen die Säulen des Hauptschiffs. In der Mitte des Einbaus lädt eine breite Treppe dazu ein, in die Auslage einzusteigen. Aussen sind die Etagen angeschrieben und geben einen Hinweis darauf, was dort zu finden ist. Von unten nach oben zwischen der ersten und zweiten Säule ist zu lesen: Lekker binnen, Lust voor het oor, Kijk nou toch! Zwischen der zweiten und dritten Säule: Pen en Papier, Uit de Kunst, Te Gast.
Im Parterre wird ein breites Angebot an Papier und Schreibwaren angeboten. Daneben befindet sich in einem dunkel gestrichenen Teil die Abteilung für Kinder mit Spielecke und einem farbigen Angebot an Bilder- und Erstlesebüchern. Unter der Empore weist ein grosses Plakat darauf hin, dass hier alles für das neue Schuljahr aufliegt: vom Schulerthek bis zur Agenda, vom Bleistift bis zu den Lehrbüchern.
Ein Streifzug durch die Etagen zeigt, dass Waanders ein breit angelegtes Sortiment führt. Beeindruckend ist die Abteilung mit den Kunstbüchern. Natürlich sind im Angebot auch Dinge, die früher nicht in einem Buchladen zu finden waren, beispielsweise ein portabler Plattenspieler für den Vinylliebhaber, eine Lunchbox, die aussieht wie ein Miniatur-Gitarrenkasten, Trinkflaschen, Taschen aus Filz, Puzzles und andere Spiele.
Der Einbau gegenüber trägt die Aufschrift „Willen weten“. Auf dem ersten Stock findet sich alles über Wissen. Vom Psychologiebuch über das Sprachbuch, den Dictionnaire bis zum Buch über autonom fahrende Autos.
Unter dem Wissensbereich und im Hauptschiff liegt die Belletristik auf. Ein riesiges Angebot. Es finden sich da natürlich zahlreiche niederländische und flämische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in der Schweiz wenig oder nicht bekannt sind. Beispielsweise: Ted van Lieshout, oder Jaap Toorenaar. Im Gegenzug liegen aber auch Bücher von Charles Lewinsky, oder Joël Dicker auf.
Der Besuch bei Waanders lohnt sich also ganz bestimmt, auch bei den Büchern. Allerdings sollte man für letzteres der niederländischen Sprache mächtig sein.