ZHAW Hochschulbibliothek, Winterthur

Bücher in der Kranhalle

Michael Guggenheimer

Der Name ist geblieben. Sulzerareal heisst das ehemalige Industrieareal der Firma Sulzer und der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM), an dem man mit der Bahn auf der Strecke von Zürich nach St.Gallen oder Romanshorn vorbeifährt. Das Areal liegt im Zentrum Winterthurs und erstreckt sich auf 20 Hektaren vom Hauptbahnhof in Richtung Südwesten. Hier wurden während Jahrzehnten Lokomotiven sowie Schiffsmotoren hergestellt. Nachdem die Industriebetriebe das Gelände verlassen haben, standen hier zunächst grosse Fabrikationshallen leer, weil die Zukunft des gesamten Gebiets der grössten Industriebrache der Schweiz neu geplant wurde. Mit der Zeit entstand nach und nach ein neuer Stadtteil mit Wohnungen, Ateliers, Läden, Freizeiteinrichtungen sowie Lernorten.

Eine Industriehalle wird zur Bibliothek. Der Laufkran hängt noch an der Decke.

Der Winterthurer Sitz der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) befindet sich mit einem Teil seiner Abteilungen auf dem ehemaligen Industrieareal. In einem Gebäude, in dem früher Lehrlinge der Maschinenindustrie ausgebildet wurden, wurde die zentrale Bibliothek aller ZHAW-Zweige zusammengefasst, die am Winterthurer Sitz der ZHAW unterrichtet werden. Früher war hier die Rohrschlosserei und – im Obergeschoss – die Lehrlingsausbildung untergebracht, weshalb zu Industriezeiten dem Gebäude der Übername «Stiftenhimmel» anhaftete. Nachdem die Firma Sulzer ausgezogen war, bekam das Gebäude zunächst den Namen «City Halle» und wurde als Musical- und Konzertbühne benutzt. Nach einer zweijährigen Umbauphase wurde hier im Februar 2015 die neue zentrale Bibliothek der ZHAW eröffnet. Mit über 6‘000 Quadratmetern ist sie die flächenmässig grösste Fachhochschulbibliothek der Schweiz. Sie ist eine Fachbibliothek mit Sammelbereichen, die den an der ZHAW in Winterthur unterrichteten Fachgebieten entsprechen. Die neue Bibliothek auf dem Sulzerareal ist nicht die einzige, die in einem bestehenden Bau eingerichtet wurde, der früher eine andere Zweckbestimmung hatte: Die Bibliothek am Guisanplatz in Bern, die Kantonsbibliothek Basel Land in Liestal, die Kunstbibliothek im Sittertal sowie die neue Stadtbibliothek in der Hauptpost St.Gallen befinden sich allesamt in Gebäuden, die früher eine andere Nutzung hatten.

Eine breite und hohe filigrane Fassade gewährt Blicke ins Gebäudeinnere und solche von den Arbeitsplätzen nach aussen. Über 250‘000 Medien der ehemaligen sechs ZHAW-Teilbibliotheken in Winterthur, ca. 500 gedruckte Zeitschriften, elektronische Medien der fünf ZHAW Departemente des Standortes Winterthur wie die Sammelbereiche Architektur und Bau, Gesundheit, Angewandte Linguistik, Technik sowie Wirtschaft und Recht können hier konsultiert werden. In die 11 Meter hohe frühere Kranhalle wurden Zwischengeschosse als von der Fassade losgelöste Bibliotheksebenen eingebaut. Dennoch wurde der industrielle Charakter des Gebäudes bewahrt und sind die früheren Konstruktionselemente sichtbar geblieben. Sowohl Krankabine und Kran an der Decke über der Empfangstheke der Bibliothek erinnern noch an die ehemalige Produktionsstätte als auch die gesamte ursprüngliche Stützen- und Trägerkonstruktion aus genietetem Stahl. Die Pläne für den Umbau der historischen Fabrikhalle haben die beiden Winterthurer Architekten Stefan Piotrowski und Jean-Marc Bovet entworfen. Die Farben Weiss für die Wände, Schwarz für das Mobiliar, Hellgrün für die Eisenkonstruktionen und Grau für den Boden dominieren, zwischendurch leuchten die roten Tupfer der Clubsessel, die zu Gruppen zusammengefügt wurden.

Im ersten Obergeschoss wurden Schul- und Gruppenräume eingerichtet. Im zweiten Obergeschoss – unter den grosszügigen Oberlichtverglasungen – entstand ein vielseitig nutzbarer grosser Raum als Lern- und Lesebereich für die Studierenden. Anders als etwa in der Zürcher Zentralbibliothek drängt sich in der lichtdurchfluteten Lernlandschaft mit ihren 680 Arbeitsplätzen nichts dicht an dicht. Ganz im Gegenteil: Noch sind hier viele Arbeitsplätze nicht belegt und noch findet sich in den Büchergestellen viel, sehr viel Platz für weitere Buchanschaffungen. Das grosse Gebäude verfügt über lebendige und leise Zonen. Eine Idee, die den Planern der Bibliothek Pate stand, war die Einrichtung einer angenehmen architektonischen Landschaft des Übergangs zwischen Arbeitsplatz und Treffpunkt. In den sogenannt «lebendigen» Zonen gruppieren sich rote Sessel um kleine Tischchen, locker voneinander abgetrennt durch mobile Schallwände. «Stille» Zonen sind sogenannte Carrels, isolierte Lernboxen, wo sich Doktoranden zum Beispiel für ihre Dissertation zurückziehen können. Daneben gibt es auch Gruppenräume aus Glas und viele gewöhnliche, durch einen Sichtschutz voneinander getrennte Arbeitsplätze. Hell und weitläufig, wie sie sind, wirken diese Räume fast wie Ateliers. Benannt ist die Winterthurer ZHAW-Bibliothek übrigens nach Tista Murk, dem ehemaligen Direktor der Schweizerischen Volksbibliothek und Pionier im Bibliothekswesen der Schweiz. Eröffnet wurde sie genau in dem Jahr, da Tista Murk 100 Jahre alt geworden wäre.

ZHAW Hochschulbibliothek Winterthur
Turbinenstrasse 2
8400 Winterthur
T: 058 934 75 00
ZHAW Hochschulbibliothek Winterthur

 

Angespannte Stille

Heinz Egger

Die Strassennamen zeugen von der Geschichte des Ortes. Von der Turbinenstrasse her betritt man die Hochschulbibliothek: Es ist das Gebäude 87 der ehemaligen Sulzer. Drei überhohe Geschosse hoch ist der denkmalgeschützte Bau. Zur Bahnmeisterstrasse und den Gleisen hin ist das Gebäude schnurgerade. Zur Turbinenstrasse wölbt sich ein elegant geschwungener Bauch.

Die Halle ist riesig. Wer durch die gesicherten Eingänge in eintritt, ist erstaunt. Der Blick wandert unweigerlich in die Höhe und folgt den schlanken, genieteten Stahlträgern. Sie sind gelblich gestrichen. Der Laufkran steht noch hoch oben, als warte er auf seinen nächsten Einsatz.

Auf drei Etagen ist die Bibliothek eingerichtet Die Mauern des in die Halle gebauten Innenhauses sind schneeweiss. Gegen die gerade Hallenseite und gegen das Dach berühren sie die Metallkonstruktion nicht. Das wirkt besonders grosszügig.

Im Parterre verläuft der ganzen Hallenlänge entlang eine schwarze Wand. Sie trägt unzählige Zeitungen und Zeitschriften zu allen vertretenen Fachgebieten: Architektur und Bau, Gesundheit, Angewandte Linguistik, Technik, Wirtschaft und Recht. Dahinter sind Arbeitsplätze. 2 Reihen Tische, gerade gross genug für einen Laptop und einige Papiere, Steckdosen, eine helle Tischleuchte von Artemide. Die Arme der Leuchten ragen alle in verschiedener Stellung hoch. Das gibt ein Bild wie das Gekrabbel eines auf dem Rücken liegenden Tausendfüsslers.

Arbeitsplätze für Studierende. Tischlampen wie Beine eines Tausendfüsslers.

Über 700 Arbeitsplätze stehen für die Studierenden auf allen Etagen bereit. Im Parterre haben sie etwas Düsteres mit der schwarzen Trennwand, der streckenweise ebenfalls schwarzen Abdeckung der Fenster, den grauen Tischen, den schwarzen Tischbeinen und den silbergrauen Leuchten. Auf den Etagen liegen viele Arbeitsplätze zu den Fenstern hin, hier herrscht Licht, hier gibt es Luft zum Atmen. Der Blick ins Grüne ist möglich. Aber die Bewegungen der Züge könnten auch ablenken.

Zwischen den Büchergestellen triff man kaum jemanden. Die dunklen Gestelle weisen viele Lücken auf. Da wurde grosszügig dimensioniert. Noch viele Bücher können hier ihr Wissen und Volumen einbringen.

Auf jeder Etage gibt es Inseln für die Entspannung: rote Fauteuils, Clubtischchen. Sie sind alle leer. Warum? Was darf man hier tun ausser sitzen, vielleicht nachdenken, lesen und zur Entspannung die Kopfhörer über die Ohren stülpen? Sicher nicht telefonieren oder sprechen mit anderen, damit niemand in seiner Konzentration gestört werde. So sind auch die Sonic Chairs verwaist. Obwohl diese Spezialkonstruktion für genussvolles Musikhören – man sitzt darin wie in einem Kopfhörer – damit werben, dass durch aktive und passive Schallisolierung die Umgebung nicht gestört werde. Sie sind akustische Inseln, und bieten einen ausgewogenen Klangraum an. So wirbt wenigstens die Broschüre, die auf dem kleinen, schwenkbaren Tischchen am ringförmigen Stuhl aufliegt.

Die Bibliothek ist grosszügig mit elektronischen Zugängen ausgestattet: Den Besucherinnen und Besuchern stehen 30 Recherchestationen, 33 PC-Arbeitsplätze, 8 Buchscanner und WLAN-Zugang frei zur Verfügung. Wer zu einem speziellen Thema bei der Materialsuche Hilfe braucht, findet sie bei der Rechercheberatung im ersten Zwischengeschoss.

Auf der obersten Etage hängen die zahlreichen Industrieleuchten nicht weit über dem Kopf. Das Licht ist hell, aber diffus genug, um den Augen angenehme Bedingungen zu bieten.

Und hier oben sitzen sie an ihren langen Tischen, die mehr Raum als anderswo bieten, die Arbeitsmaterialien auszulegen. Die angespannte Stille ist physisch spürbar. Einige arbeiten wohl seit Stunden. Ihre Haltung wirkt nicht gesund. Krumme, zusammengesunkene Rücken, starr vorgeschobener Kopf für eine bessere Sicht auf den Bildschirm, übereinander geschlagene Beine. Kopf auf der einen Hand aufgestützt, auch auf beiden während dem Lesen. Nervös wippen oder bewegen sich Füsse hin und her. Immer wieder greifen Hände mechanisch zum Handy. Nägelkauen. Trinken. Geräusche von hingelegten Schreibzeugen. Blättern in Büchern. Klickern von Tastaturen. Jedes Geräusch wird in dem riesigen Raum sofort verschluckt. Einige der Studierenden tragen Kopfhörer im Ohr. Finger fahren durch die Haare, spielen mit einem Büschel des blonden, schulterlangen Haars. Das Ringen, etwas zu verstehen, eine treffende Formulierung zu finden, einen Weg durch eine Aufgabe zu entdecken, ist fast greifbar. Der Kugelschreiber kritzelt übers Papier in verkrampfter Haltung, denn die Knödel des Zeige- und Mittelfingers schimmern weiss. Dann stehen sie steif auf, tun ein paar Schritte, die offensichtlich weh tun. Der teure Computer bleibt einfach am Arbeitsplatz liegen.

 

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