Die älteste von Edmonton
Heinz Egger
Zuerst die Enttäuschung: Was sich im obigen Bild wie ein Schiff zwischen die Häuser hereinschiebt, ist die Hauptbibliothek von Edmonton. Sie heisst Stanley A. Milner Library. Als ich dort eintreffe, ist das ganze Haus von hohen Bauzäunen umgeben. Sie ist seit 2017 geschlossen, denn sie wird umfassend renoviert und auf neuesten Stand gebracht. Im Februar 2020 soll grosse Eröffnung sein. Etwas enttäuscht bin ich, denn das Haus verspricht, dank seiner ziemlich ausgefallenen Architektur eine Perle zu sein.
Aber Edmonton bietet noch andere besuchenswerte Orte. Zum Beispiel ist Old Strathcona – es war einst eine eigenständige Stadt – auf der gegenüberliegenden Seite des North Saskatchevan River so einer. Per Bus kann man dorthin reisen oder ganz gemütlich mit dem „High Level Bridge Street Car”. Das Rollmaterial wird von einem Verein, der Edmonton Radial Rail Society, gepflegt und betrieben. Ich fuhr in einem australischen Gefährt, dem Melbourne 930, hinüber und landete mitten in der alten Stadt.
Dann die Überraschung: Plötzlich stand ich vor einem Backsteinhaus mit steiler Steintreppe hinauf zu einer Doppeltüre, die von zwei runden Säulen mit Volutenkapitell flankiert ist. Auf den Kapitellen ruht ein Querbalken mit der Inschrift „Public Library”. Ich war gespannt, was mich in diesem altehrwürdigen Haus erwarten wird.
Nach der Eingangstüre stehe ich in einem kleinen Vestibül, aus dem eine Treppe mit hölzernem Geländer in den oberen Stock führt und eine ins Untergeschoss. Der Weg geradeaus ist durch eine verglaste Wand versperrt, hinter der Arbeitsplätze der Angestellten sichtbar sind. Ich betrete die Bibliothek durch eine „Iskwâtem”, wie ein blaues Schild an der Türe erklärt. Das Wort stammt aus der Sprache der Cree, den Ureinwohnern der Gegend. Ich gelange in einen hohen Saal mit Säulen. Von der Decke hängen zum Raum passende Lampen am Kettchen, die ein angenehmes Licht spenden.
Der Weg führt an der Informationstheke vorbei. Hoch oben an der Trennwand zum Vestibül ist eine grosse Uhr angebracht. Die Gestelle sind nicht sehr hoch, dunkelbraun und schwer beladen. Wie viele Bücher in der Bibliothek zu haben sind, wusste die Bibliothekarin Pat nicht. Im Moment seien, da die Hauptbibliothek renoviert werde, mehr Bücher im Haus und der Bestand etwas „floating”. Und auch Arbeitskräfte seien mehr da, sagte Pat.
Ich sprach sie auf die Wörter in Cree an. Sie erklärte mir, dass das Gebiet von Edmonton von den Cree bewohnt worden sei. Und die Bibliothek wolle drauf aufmerksam machen, dass die Weissen nicht die ersten Bewohner des Landes gewesen seien. Bücher in Cree hätten sie keine, die Hauptbibliothek, die in einem Provisorium untergebracht ist, hingegen schon. Laut Wikipedia leben in Edmonton etwa 5.3% Indigene.
Pat drückt mir einen kleinen Prospekt mit einem Einalgeblatt über die Bibliothek und deren Geschichte in die Hand: Das Haus wurde im englischen Renaissance-Stil als erste Bibliothek von Edmonton gebaut und 1913 fürs Publikum geöffnet. Zum 100. Geburtstag von Alberta wurde das Haus renoviert und erweitert. Das war 2005. Das Dach ist wie beim ursprünglichen Bau mit Schindeln aus Cedernholz gedeckt. Der Anfangsbestand betrug 4 827 Bücher. Der halbrunde Anbau hat den verfügbaren Raum verdoppelt. In den 1990er Jahren sind 300 000 Mitglieder in Edmontons Bibliotheken eingeschrieben, also fast 50% der Bevölkerung!
Im halbrunden Erweiterungsbau befindet sich die Kinderbibliothek. Die Gestelle sind vier Tablare hoch und dunkel eingefärbt, was dem Raum eine gewisse Schwere gibt. Niedere Tische mit Stühlen, eine „Dampflok mit Tender” und Fauteuils laden die kleinen Leseratten ein, Platz zu nehmen und ihre Fundstücke gleich näher zu betrachten. Auf einem Tisch sind zwei Tablet-Computer mit Kopfhörern und ein PC mit farbiger Tastatur verfügbar. Dieser Raumteil ist sehr hell, weil die zahlreichen Fenster hoch sind. Zwischen zwei Fenstern steht ein „Cheminée”, in dessen Feuerstelle ein grosses Aquarium eingebaut ist.
Während draussen ein Strassenmarkt viele Leute anzieht, ist es in der Bibliothek sehr ruhig. Dennoch sitzen einige Personen an den PCs, schauen Filme, recherchieren oder lesen online.
Im Untergeschoss befindet sich die Belletristik für die Erwachsenen. Viele Gestelle, viel Literatur. Sogar Bücher auf Deutsch sind vorhanden, unter anderem von Juli Zeh „Unterleuten”, die spannende Dorfgeschichte. Mir fällt auf, wie gross die Sammlung an angebotenen Filmen auf DVD ist, und dies nicht nur bei den Erwachsenen.
Die dunklen Gestelle machen den eher schwach beleuchteten, halb in der Erde stehenden Raum zu einer Art Höhle. Gemütliche Sitzgelegenheiten und Arbeitsplätze stehen bereit. Die Arbeitsplätze sind so gestaltet, dass man viel Privatheit hat: zwischen den Sitzplätzen steht eine Wand, so dass der Tisch des Nachbarn nicht eingesehen werden kann.
Dort unten befindet sich auch ein grösserer Raum der Mitarbeitenden der Bibliothek. Sie bereiten dort die Bücher auf, die neu sind, und ordnen Rückgaben in Wagen ein, um sie wieder in die Gestelle zurückzubringen.
Ich schliesse meinen Rundgang durch die Bibliothek ab, indem ich noch einige Fotos schiesse. Ich verlasse die Bibliothek mit dem Gefühl, einen sehr schönen Ort mit einer angenehmen Atmosphäre besucht zu haben. Das Bibliotheksnetz von Edmonton hat 21 Standorte, an denen 14 Millionen physische und digitale Medien angeboten werden! Es wäre bestimmt ein spannendes Kennenlernen der Stadt, der Quartiere und der Bewohnerinnen und Bewohner, diese Buchorte alle aufzusuchen.
Edmonton Public Library
Strathcona Branch
8331 104 Street
Edmonton AB T6E 4E9
T: 001 780 496 1828
www.epl.ca/locations/EPLSTR
Die jüngste von Calgary
Heinz Egger
Die Central Library in Calgary zu besuchen, war mein Ziel. Dass ich hier auf die sicher jüngste Bibliothek Calgarys und möglicherweise ganz Kanadas treffen würde, wusste ich nicht.
Die Bibliothek ist erst seit dem November 2018 offen und ersetzt ein älteres Gebäude! Sie liegt in der 7th Avenue, dort wo sich im Osten die CTrain-Linien trennen.
Die eine der Linien fährt gar unter dem Gebäude durch. Wie ein riesiges Kanu liegt der schlanke Bau hoch über Trassee und Strasse. Die Fassade ist aus hexagonalen Teilen zusammengesetzt. Raffinierte Aufteilungen von transparenter und undurchsichtiger Elemente ergeben faszinierende geometrische Spiele. Eine breite, geschwungene Treppe führt zu einem überdachten Vorplatz, dem „Archway”, und zum Eingang.
Ich trete ein. Licht fällt von oben durch ein Auge im Dach und erhellt den Raum. Der Blick wandert unweigerlich dem völlig mit Holz gestalteten Innenraum nach oben und streift die vier Etagen. Kurz kommt mir die Juristische Bibliothek der Universität Zürich, die von Calatrava designt worden ist, in den Sinn. Die Form ist ähnlich, aber in Calgary noch um einiges eindrücklicher. Es ist wie in einer Kathedrale!
Nahe beim Eingang steht ein Gestell mit Unterlagen zur neuen Bibliothek. Ich schnappe mir den Faltprospekt über die Architektur des Hauses und jenen über die Bibliotheken in Calgary, den Führer für Besucher, ein Faltblatt für Kinder zum Entdecken der Bibliothek und eine Broschüre mit dem Titel „Great Reads 2019” mit 250 Lesevorschlägen für jedes Alter und Interesse.
Mit dem Papier unter dem Arm steige ich die breite Treppe gegenüber dem Eingang hoch und komme zu einer ersten Skulptur indigener Kunst. Es ist ein metallener Bison, wohl in originaler Grösse, zusammengesetzt aus Buchstaben. Gestaltet hat ihn Lionel Peyachew. Der Künstler stellt damit den Wechsel in den Schlüsselfähigkeiten zum Überleben dar. War es früher die Jagdkunst und der Bison als Beute, so ist es heute die Fähigkeit mit Buchstaben, Wörtern, Sätzen und Texten umzugehen, daraus zu lernen und sich zu bilden. Der Bison steht natürlich am richtigen Ort, denn die Bibliothek hat sich als Vision auf die Fahne geschrieben „Potentials Realized”. Sie will also, dass die Gemeinschaft der Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer ihre Potenziale ausschöpft. Dazu besteht auch ein strategischer Plan über vier Jahre (PDF) mit Zielen für jedes Jahr.
Über eine weitere Treppe erreiche ich das Café, wo ich mich installiere und meine Prospekte studiere. Der Raum ist hoch und sehr hell, viel Holz. Die niederen Tische haben grösseren Abstand, die Akustik ist so, dass nicht jeder jeden anderen hören kann. Falls man sich langweilt, steht ein Geschichten-Automat zur Verfügung. Der „Short Story Dispenser” bietet Geschichten für eine, drei oder fünf Leseminuten an. Nach kurzem Warten, beginnt der Papierstreifen aus dem Automaten zu wachsen. Für fünf Leseminuten gibt es schon einen guten Meter Papier. Die Idee stammt aus Frankreich, wo auch der Automat herstammt: short-edition.com.
Gleich neben dem Café beginnt der Bereich der Kinderbibliothek. Er erstreckt sich über die ganze Gebäudelänge. Noch vor den Büchern und Spielen steht eine Station für die Katalogabfrage. Aber nicht nur. Der Ruhebildschirm ist in fünf Felder aufgeteilt. Eines gibt Zugang zum Katalog, ein zweites lädt ein, Mitglied zu werden. Und ich staune: Die Mitgliedschaft in der Bibliothek ist gratis! Weiter kann man die Anlässe in der Bibliothek abfragen oder die Öffnungszeiten und den Ort der 20 weiteren Bibliotheken in Calgary einsehen oder „ein Programm finden”. Die Programme sind Weiterbildungsangebote. Die Programme richten sich an alle vom Baby bis zum Senior. Da geht es beispielsweise für Erwachsene um Arbeitssuche, Technologie oder Lesen und Schreiben.
Fasziniert bin ich vom „Questionarium”, ein Raum für Kinder von acht bis zwölf Jahren. Für kleine Forscher gibt es eine Wand mit Themenkästchen. Auf der Türe steht ein Stichwort, beispielsweise „Space and Star Stuff”. Die entsprechenden Bücher finden sich hinter der Tür. Etwas entfernt davon öffnet sich ein Bereich, in dem auf Tischen Aufgaben verschiedenster Art aufgelegt sind. Über dem Tisch die Aufgabe: Solve. So wird Wissbegier angestachelt!
Über Treppen steige ich einen Stock höher. Dort treffe ich auf das Büro des „Writer in Residence”. Es ist es leer.
Ich erklimme den nächsten Stock und geniesse dabei wieder den Blick in die Halle. Ich lande bei den „World Languages”. Von Deutsch bis Uigurisch zähle ich über 20 Sprachen.
Vor dem Bereich für die Jugendlichen stutze ich. Am Eingang steht eine Tafel, die handgeschrieben darauf hinweist, dass der Raum für Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren reserviert sei. Er ist leer. Deshalb getraue ich mich trotzdem hindurchzugehen.
Am Ausgang aus dem Teen-Bereich stehe ich vor einem Meer aus Bildschirmarbeitsplätzen. 88 sind es, wie mir eine Bibliotheksangestellte sagt, und es gebe noch ausleihbare Laptops. Alle Plätze sind besetzt! Ja, es gebe in Calgary Leute ohne Computer und die seien um dieses Angebot sehr froh.
Im vierten Stock schliesslich betrete ich den grossen, sehr geschmackvoll gestalteten Leseraum. Er liegt in der Mitte des Gebäudes, hat die Form des Gebäudes, ist fensterlos, aber besitzt in der Decke ebenfalls ein Auge für Tageslicht. Nur wenige Leute sitzen da und arbeiten. Aussen um diese Kapsel stehen die Gestelle mit der Geschichte von Calgary. Dazu gehört auch eine grosse Kartensammlung und Schränke voller Akten der Stadt.
Nein, ich habe in den zwei Stunden nicht die ganze Bibliothek gesehen. Auch habe ich nicht wirklich ergründet, wie sehr das Indigene in dieser Bibliothek ein integraler Bestandteil ist. Da gäbe es, wie meine Broschüren und die Internetsite berichten, noch viel zu entdecken. Auf der Website gibt es eine Seite, die 100 Gründe aufzählt, diese Bibliothek zu besuchen und zu lieben. – Wenn das nicht überzeugt!
Calgary Public Library
800 3 St SE
Calgary AB T2G 0E7
T: 001 403 260 2600
calgarylibrary.ca