Bibliothek im Kaufhaus
Michael Guggenheimer
Zwei ehemalige grosse Warenhäuser stehen in Chemnitz. Das Kaufhaus Schocken und das frühere Kaufhaus Tietz, Zeugen aus den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden sie enteignet, weil sie jüdischen Familien gehörten. Beide Häuser wurden im Zweiten Weltkrieg schwer getroffen und wiederaufgebaut. In der DDR-Zeit dienten sie nochmals als Kaufhäuser, heute sind sie Sitz von Bildungsinstitutionen.
Mit dem ehemaligen Warenhaus H. & C. Tietz erhielt Chemnitz 1913 das erste moderne Grossswarenhaus, es war damals das größte und vornehmste Kaufhaus Sachsens. Um einen hellen Lichthof gruppierten sich damals 60 Fachabteilungen. Zu Spitzenzeiten beschäftigte das Warenhaus bis zu 1200 Angestellte und Arbeiter. In der DDR-Zeit richtete sich hier das Centrum-Warenhaus ein. Nach einer umfassenden Renovation wurde hier 2004 das Kulturzentrum DAStietz (gesprochen „Das Tietz“) mit Volkshochschule, Naturkundemuseum, Musikschule, Neue Sächsische Galerie und Stadtbibliothek eingerichtet. Mit nahezu einer Million Besuchern pro Jahr ist DAStietz die am stärksten frequentierte Kultureinrichtung der gesamten Region.
Im Lichthof stehen hohe versteinerte Bäume. Hierbei handelt es sich um Zeugen einer paläobotanischen Fossilfundstätte. Die Funde sind im DAStietz im Museum für Naturkunde ausgestellt und zählen zu den wichtigen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Man blickt zu ihnen hinauf und sieht die beiden Bibliotheksstockwerke, die um den Lichthof eingerichtet wurden. Eine halbe Million Bücher weist die Bibliothek auf, 120 aktuelle Zeitungen und Magazine im Lesecafé, Internetarbeitsplätze, Abspielstationen für CD und DVD, Leseecken, Arbeitsräume sowie einen Veranstaltungssaal. Mit dem Lift fährt man zum dritten Stockwerk hinauf, wo sich der Zugang zur Bibliothek befindet. Eine breite Treppe führt hinab zum zweiten Stockwerk. Die Wände alle in Weiss, der Teppichboden grau, das Mobiliar farbig, die Tische in hellem Grün, die Stuhlpolster in hellem Orange und Rot, die Büchergestelle nicht geometrisch starr angeordnet, sondern unkonventionell gestellt. Das Tageslicht kommt von oben, die Bibliothek eine helle Oase der Ruhe inmitten einer geschäftigen Stadt. Dem grossen Gebäude mit seinem extravagantem Lichthof und den umlaufenden Galerien auf vier Stockwerken sieht man die Konstruktion in Stahlbeton nicht sofort an, weil man die Fassade mit ihrer prägnanten vielgliedrigen strenge Einteilung aus Elbsandstein im Innern in Erinnerung hat.
Die Unterteilung der einzelnen Abteilungen der Bibliothek ist sehr differenziert, die einzelnen Büchergestelle sind gut sichtbar nach Sachgebieten unterteilt. Die Gestelle gleichen thematischen Inseln zwischen denen man sich gut frei bewegen kann. Zwei Lichthöfe sind es, die der Bibliothek eine Helligkeit verleihen, ein äusserer und ein innerer. Schön voneinander getrennt der Belletristikbereich und der Bereich der Sachbücher. Die Stadt Chemnitz, die seit den Demonstrationen vom Sommer 2018 keine gute Presse hat, kommt einem im DAStietz durchaus näher. Will man sich über die Stadt, die einst ein wohlhabender Ort war, informieren und Vorurteile abbauen, kann man sich in eine sehr reich dotierte Abteilung von Büchern über die Stadt begeben, wo einzelne Tablare unter dem Oberbegriff Chemnitz fein gegliedert Bezeichnungen tragen wie Kunst, Geschichte, Statistik, Wirtschaft, Museen, Soziales, Metallurgie, Maschinenbau und Bauwesen tragen. Die Bücher der Freihandbibliothek sind durchwegs sehr systematisch aufgestellt. Baum und Wohnen heisst eine Abteilung, die wiederum nach den folgenden Unterbereichen gegliedert ist: Gartenbau, Kleingarten, Gartenpraxis, Gartenformen, Zimmerflanzen, Balkonpflanzen, Floristik, Imkerei, Heimtiere, Hunde, Katzen, Singvögel, Wohnraumgestaltung, Heizung, Klima, Sanitär, Baustoffe etc. Gut dotiert mit russischsprachiger Literatur ist dir Belletristikabteilung. Witzig zudem die Vitrinenausstellung mit dem Titel «Sammelsurium – Fundstücke und Kuriositäten in zurückgegebenen Büchern». Beim Durchwandern der Bibliothek wird einem die Grösse des ehemaligen Kaufhauses bewusst: Chemnitz muss einst wirklich eine prosperierende Stadt gewesen sein.
Stadtbibliothek Chemnitz
Moritzstraße 20
09111 Chemnitz
T: 0049 371 488 42 22
www.stadtbibliothek-chemnitz.de
Ein zweites Buchleben
Michael Guggenheimer
Alle reden von zu vielen Pappbechern und Verpackungswahn. Doch warum nicht nachhaltig mit den Dingen umgehen, die nun mal schon da sind: Mit Büchern zum Beispiel. Erika Maria Auer (rechts im Bild), Cosima Konrad und Rico Pfister im MyRebooks in Chemnitz zeigen, wie das gehen kann. In einem Raum eines ehemaligen Bankgebäudes wurde ein Laden eingerichtet, in dem sie arbeiten. Ein Lesecafé mit Frozen Joghurts, Kuchen und Fruchtsäften. Zwei Sitzgruppen, zwei Tische und vor dem Café Tische, Stühle und Sonnenschirme. Und im Café 7000 Bücher nach Sparte fein geordnet in Büchergestellen vom Boden bis zur Decke. Weitere 8000 befinden sich in einem weiteren Raum: Nachschub. Bei MyRebooks kostet jedes Buch 3 Euro, egal ob Kunstband, Roman, Gedichtband oder Krimi. Den Büchern ein zweites Leben geben, lautet die Devise. Und anders als in Schweizer Bücher-Brockis gibt es hier Beratung. Wer im Café ein Buch liest und ein anderes Mal weiterlesen möchte, der bekommt ein Buchzeichen, gibt das Buch ab, das auf ihn wartet und nicht verkauft wird. myrebooks gibt’s seit einem Monat.
«Wir alle gehören zusammen und das Lesen ist schön. Unter diesem Motto begann eine Idee zu reifen, die wir heute „myrebooks“ nennen», heisst es in einer Selbstdarstellung des Projekts. Und Lutz Heylen, der Projektleiter, sagt dazu: «Dutzende Bücher tummeln sich in unseren Wohnungen – unterm Bett oder in der hintersten Ecke eines Schrankes. Ich will Gelesenes entstauben und zurück ans Tageslicht holen». Der gelernte Buchhändler hat „MyRebooks“ erfunden. Dahinter steckt ein Büchercafé mit integrativem Charakter. Das Ganze läuft so: Heylen verteilte zehn Boxen in Einrichtungen wie Schulen, Banken oder Firmen. Dort kann man nicht mehr benötigte Bücher einwerfen. Im Büchercafé erfahren sie quasi ein zweites Leben und werden für kleines Geld wiederverkauft.
«Menschen mit Behinderungen haben es oft schwer, sich auf dem wettbewerbsorientierten Arbeitsmarkt zu integrieren. Das Modell der beruflichen Rehabilitation in unserem Laden soll ihnen dabei helfen, jene Fähigkeiten und Fertigkeiten aufzubauen und zu entwickeln, die für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt notwendig sind. Darüber hinaus unterstützen wir mit diesem Projekt den Grundgedanken des Umweltschutzes und des Recyclings», erläutert Heylen. Fünf Mitarbeiter mit Handicap seien bereits mit dabei.
18 000 Bücher wurden in den ersten Wochen seit Beginn des Projektes gespendet. Wie die Bücher ihren Weg in den Laden finden? Der einfachste Weg MyRebooks zu unterstützen sei es, eine der Bücherboxen von MyRebooks aufzusuchen und dort die nicht mehr benötigen Bücher abzugeben. Schlicht, einfach und ohne viel Schnick-Schnack: Die Bücherboxen aus Holz findet man an verschiedenen Stellen in und um Chemnitz. So zum Beispiel in der Stadtbücherei in DAStietz. Bücher, die man spenden möchte, könne man auch direkt zum Lesecafè auf dem Johannisplatz bringen.
PS: Unweit von ReBooks befindet sich das ehemalige Kaufhaus Schocken. Der berühmte Berliner Architekt Erich Mendelsohn hat den grossen Bau 1930 entworfen. Das Gebäude beherbergt heute ein wunderbar eingerichtetes Archäologiemusem. Zudem werden auf drei Stockwerken Architekt Mendelsohn, die Familie Schocken sowie der Buchliebhaber, -sammler und Verleger Salman Schocken in drei beeindruckenden Ausstellungen vorgestellt. Das ehemalige Kaufhaus Schocken ist in diesem Sinne auch ein Buchort, dessen Besuch sich lohnt.
MyRebooks
Johannisplatz 10
09111 Chemnitz
www.myrebooks.de