Glücksfall in Höngg
Michael Guggenheimer
Zweimal die Zehn. Zweimal im zehnten Monat desselben Jahres. In Lausanne geht im Oktober 2019 die «Plateform 10» auf, das neue Kulturquartier neben dem Bahnhof mit seinem grossen Kunstmuseum. In Zürich wird gleichzeitig die Buchhandlung «Kapitel 10» im Stadtkreis 10 eröffnet. Andreas Pätzold, Gründer und Besitzer der einzigen Buchhandlung im Stadtteil Höngg, strahlt viel Optimismus aus. Und der wirkt ansteckend. Man hört Pätzold zu, wenn er erzählt, wie es zur Gründung des Buchladens kam und glaubt an die Zukunft seines Ladens in einem Stadtteil mit 21 000 Einwohnern, in dem es bis jetzt zwar eine Bibliothek gab und ein Café mit viel frommer Literatur aber noch keine Buchhandlung.
Der ehemalige nationale Verkaufsleiter der Schweizer Post ist ein Quereinsteiger. Bücher haben ihn immer schon fasziniert. «Ich habe mich schon immer wahnsinnig für Bücher interessiert», sagt Andreas Pätzold. Als er fand, es sei nach knapp dreissig Jahren bei dert Post an der Zeit, etwas Neues zu wagen, und nicht mehr wie in den letzten drei Jahren mehrmals in der Woche von Zürich nach Bern mit der Bahn unterwegs zu sein, da begann er sich nach Neuem umzuschauen. Seit dem zehnten Monat 2019 kann er von zuhause in sein Bücherreich zu Fuss gehen. «So schön», sagt er. Es war ein Besuch im Café der noch jungen Buchhandlung Kosmos in Zürich, bei dem er den Entschluss fasste, den Schritt zu wagen. Besuche in Berliner Buchläden ergänzten die Suche nach dem neuen Berufsweg. Das geschäftliche Rüstzeug, um etwas Neues zu wagen, hat er in den Jahren bei der Post geholt, das buchhändlerische Wissen ist während einer mehrmonatigen Ausbildung für Quereinsteiger beim Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverband (SBVV) hinzugekommen.
Pätzold ist offen für Ratschläge, er weiss das Wissen von Fachleuten zu schätzten: Noch bevor er den Laden eingerichtet hat, hat er sich beraten lassen. Ein Glücksfall ist das Ladenlokal. Es gehört einer Nachbarin im Haus nebenan, der eine Buchhandlung mit kleinem Cafébetrieb lieber ist als wieder eine Werbeagentur. Die Lage der Buchhandlung kann man als ideal bezeichnen. Zwar ist es recht laut an der Limmattalstrasse mit ihrem Durchgangsverkehr. Aber immerhin: an der Hauptstrasse von Höngg mit ihren Läden kommen alle vorbei. Kaum ist die Ladentür wieder zu, befindet man sich in einem ruhigen Raum. Im Hintergrund ist Jazzmusik sehr diskret zu hören.
Zu Beginn war nur das rote Sofa da. Pätzold sass im leeren Raum auf dem Sofa, blätterte die Verlagskataloge durch, schaute zum Schaufenster seines zukünftigen Geschäfts auf die Strasse hinaus und begann die Zukunft von «Kapitel 10» zu entwerfen. Dann kamen die ausnehmend schönen Büchergestelle hinzu, in Chur fand er in einem Antiquitätenladen schöne Tischplatten, zu denen noch passende Tischbeine gefunden werden mussten. Die Wände mussten gestrichen und Lampenschienen montiert werden. Eine Kaffeeecke ist bereits definiert. Sobald zwei Toiletten im Kellergeschoss eingerichtet sind, wird die Kaffeeecke eröffnet werden. Die wunderbaren Kuchen, die Pätzold schon jetzt anbietet, backt eine junge Frau im Stadtteil Albisrieden. Und die schönen Blumenarrangements im Laden erinnern daran, dass hier einst ein Blumenladen untergebracht war.
Das rote Sofa, ein niedriger Tisch, zwei Sessel und dann nochmals zwei Sessel mit einem kleinen Beitisch. Der geschmackvoll eingerichtete Raum ist breit und hell. Links beim Eingang gleich die Belletristik. Die neue Buchhandlung kann es in Sachen Auswahl an Schweizer und internationaler Literatur mit anderen aufnehmen. Auf drei Tischen, die der Länge des Raums entlang angeordnet sind, liegen die Neuerscheinungen und jene Bücher, auf die Pätzold besonders hinweisen möchte. Weiter hinten die Kinder- und Jugendbücher, dann die Krimis und etwas Reiseliteratur: Die grossen Städte sind da schon vertreten. Rechts vom Eingang die Kochbücher, dann Bücher zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen und Bücher aus den Bereichen Psychologie und Philosophie. Ah ja, Lesungen sollen hier auch immer wieder stattfinden: Dreissig Stühle warten im Keller darauf, heraufgeholt zu werden. Noch bevor der neue Laden eröffnet wurde, hat der Rotpunktverlag für die erste Veranstaltung Provence-Wanderführer von François Meienberg vorbeigebracht und der Diogenes Verlag signierte Exemplare von Simone Lapperts Erfolgroman «Der Sprung».
Buchhandlung Kapitel 10
Limmattalstrasse 197
8049 Zürich
T: 044 544 20 08
www.kapitel10.ch
Neues Kapitel für Höngg
Heinz Egger
Es gibt sie noch, die Menschen, die aus einem gut bezahlten Management-Job aussteigen und die Unabhängigkeit wählen. So tat es auch Andreas Pätzold. Er war zuletzt im Management im Verkauf Schweiz eines Grossbetriebs angestellt. Er pendelte täglich von Höngg nach Bern. Und es machte ihm nichts aus, den Zug zu verpassen. Die „gewonnene” Zeit habe er gern mit einem Buch verbracht, sagt er. Ihm war nach etwas Neuem. Da traf es sich gut, dass seine Frau den Wunsch äusserte, ihre Arbeit etwas auszubauen. So zog er sich denn als Hausmann zurück, betreute die Kinder und nahm sich Zeit, sich umzublicken und Ausschau nach einer neuen Tätigkeit zu halten.
Es sei im „Kosmos” gewesen, sagt er, als er einmal entspannt dasass, Kaffee trank und der Frage nachhing, was er machen würde, wenn er einfach 20 Millionen Franken zur Verfügung hätte. Es sei wie ein Blitz durch in gefahren: eine eigene Buchhandlung führen. Bücher habe er immer geliebt. Die Idee gärte in ihm und wurde immer konkreter. So konkret, dass er sich im Frühjahr 2019 für den Quereinsteigerkurs beim SBVV anmeldete und diesen bis im August 2019 erfolgreich abschloss. Bald war das Ziel klar, er will mit seiner eigenen Buchhandlung seinem Leben und Höngg ein weiteres Kapitel hinzufügen. Die Buchhandlung „Kapitel 10” sollte noch in diesem Jahr ihre Tore öffnen. Zielgerichtet machte er sich an die Arbeit. Binnen zweier Monate sollte alles bereit sein.
Ihm wurde zugetragen, dass in der Nähe des Meierhofplatzes in Höngg ein Ladenlokal frei werde. Er schaute sich die Räume an, fand sie für geeignet und setzte sich mit der Vermieterin in Verbindung. Diese freute sich über sein Projekt und schlug ihm gleich einen anderen, grösseren Raum vor, der erst noch gerade frei wurde. Dank einem guten Mietangebot wurde der Vertrag abgeschlossen.
Limmattalstrasse 197, ein Steinwurf von den Haltestellen von Bus und Tram am Meierhofplatz entfernt liegt das ältere Haus, in dem sich Andreas Pätzold einzurichten begann. Das rote Sofa, das ganz vorn beim Schaufenster steht, sei das erste gewesen, was im Raum gestanden sei. Viel machen musste er nicht in dem Raum. Zwei Wände habe er streichen lassen. Eine davon, die Rückwand des Raums ist in einem warmen Rot gemalt. Sie verleiht dem Raum Tiefe und gleichzeitig eine angenehme Note. Davor steht heute die Kassatheke. Und eine gute Beleuchtung hat er eingebaut, alles LED-Strahler. Sie fluten die schlanken Büchergestelle, welche die Wände säumen. Die Gestelle sind aus dunkel belegtem Schichtholz. Sie lassen sich einfach erweitern und die Tablare können auf verschiedene Höhen eingestellt werden. Schlicht, schlank und klar sind sie. Sie erdrücken den Raum trotz den dunklen Wangen nicht.
Auf dem grau gestrichenen Boden, der freien Fläche im Raum stehen alte Tische. Sie stammen aus einem Antik-Brockenhaus in Chur. Eine Tischplatte mit Gusseisenfüssen, ein abgelaugter Holztisch mit Schubladen, ein runder Tisch mit massivem, geschnitztem Holzfuss. Auf diesen Tischen liegen Neuerscheinungen. Wenn jemand ein Buch näher anschauen wolle, so solle er bequem sitzen können, sagt Andreas Pätzold. Deshalb hat er das Sofa mit einem Clubtisch und zwei farbigen Sesseln ergänzt. An einer Wand steht ein weiteres Tischchen mit zwei grauen Sesseln. Der Raum wirkt weit, offen, hell – eine Lesehöhle im besten Sinn.
Die Bücherauswahl habe er ganz allein getroffen. Er sei auf dem damals noch einsamen Sofa gesessen, habe in den Katalogen geblättert und seine Wahl getroffen. Oft habe er durchs Fenster geschaut und die vorbeigehenden Leute beobachtet und sich immer wieder gefragt, welches Buch wohl zu welchem Passanten, zu welcher Passantin passen würde.
Weil vor dem Schaufenster viele Leute mit Kindern vorbeizogen, nimmt denn die Kinder- und Jugendliteratur einen breiten Raum ein. In dunkelgrauen Kisten, die an der Wand befestigt sind stehen die Bände. Es lässt sich darin als Erwachsener wunderbar in den angebotenen Titeln blättern wie in einem Karteikasten. Natürlich gibt es Belletristik, ein Gestell mit Schweizer Autoren, Krimis, Sachbücher von Kochen bis gezeichnete Biografie und einige Lyrikbände.
Die Gestelle sind noch nicht angeschrieben. Aber Andreas Pätzold wendet diesen Mangel in einen Vorteil, denn mit jeder eintretenden Person kann er so kurz ins Gespräch kommen, in dem er die Lage seiner Abteilungen vorstellt. Selbst wenn die Person sagt, sie wolle nur etwas stöbern, macht er das mit Eifer, gewinnend und sehr gekonnt. Sein Berufsrucksack mit Verkauf und Management hilft ihm dabei ganz bestimmt.
In der Buchhandlung soll auch ein kleines Kaffee entstehen. Das sei im Beamtendeutsch eine „innenliegende Nebenwirtschaft”, sagt Andreas Pätzold. Die Grösse ist auf zehn Plätze beschränkt und es müsse für die Gäste eine eigene Toilette haben. Er sei so froh, dass gerade für diese Sanitärinstallation ihn die Vermieterin grosszügig unterstütze. Aber diese Installation wird nicht nur für den Kaffeebetrieb wichtig sein, sondern auch für die Veranstaltungen, die bereits geplant sind. So ist bereits am zweiten Tag der Höngger Autor François Meienberg mit seinem neuen Werk „Zu Fuss durch die Provence” zu Gast. Und wer weiss, vielleicht tritt in diesem Raum auch einmal die Schweizer Schriftstellerin Simone Lappert auf. Von ihr bietet Andreas Pätzold signierte Bände „Der Sprung” an. Im Schaufenster liegt ein ganzes Häufchen davon. Dies sei durch einen Sondereinsatz des Vertreters des Diogenes Verlags möglich geworden. Überhaupt hätten ihn die Verlage wunderbar für sein Unterfangen unterstützt.
Der Start, so scheint mir, ist gut geglückt. Zum Eröffnungstag, dem 31. Oktober, gab es gemäss dem angepassten Halloween-Motto „Süsses ohne Saures”. Auch Buchort hat das Gespräch mit Andreas Pätzold bei feinem Kuchen und Kaffee geführt. Es bleibt zu hoffen, dass bei all den guten Voraussetzungen das Saure dem schönen Buchgeschäft fern bleibe.